Gedenkbild für die Opfer des Anschlags in Hanau.  Foto: Dosenkunst.de

5 Minuten und 29 Sekunden

Rezension: Çetin Gültekin, Mutlu Koçak: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland. Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau, 302 Seiten, Heyne 2024, 16 €.

Said Etris Hashemi: Der Tag, an dem ich sterben sollte. Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat, Hoffmann und Campe 2024, 224 Seiten, 23 €.

Von Dana Fuchs und Mika Pérez Duarte

Anfang diesen Jahres erschienen zwei Bücher, die sich aus sehr persönlichen Blickwinkeln mit dem extrem rechten Anschlag von Hanau befassen. Çetin Gültekin und Said Etris Hashemi haben am 19. Februar 2020 ihre Brüder verloren: Gökhan Gültekin und Said Nesar Hashemi. Etris wurde ebenfalls angeschossen und überlebte den Anschlag schwer verletzt. Die Bücher beschreiben die Leben ihrer Brüder und setzen sich mit rechtem Terror und dessen Aufarbeitung auseinander.

Çetin Gültekin und Said Etris Hashemi erzählen aus der Perspektive von Angehörigen und Betroffenen rechter Gewalt. Sie berichten von ihren Familien, institutionellem Rassismus und ihrem Leben in Hessen. Die beiden schreiben ausführlich über die Tatnacht: Etris und dessen Bruder Nesar trafen sich an diesem Abend gemeinsam mit ihren Freunden Momo, Hamza Kurtović und Piter Minnemann in der Arena Bar. Zuvor hatte sich Etris bei Gökhan Gültekin im Kiosk noch eine gemischte Tüte gekauft, die dieser immer ganz voll macht, aber nur 50 Cent dafür nimmt. Die Fünf essen gerade Pizza, als der Täter die Bar betritt und schießt. Etris ruft die 112 an. Unter der 110 konnte er, wie auch andere Zeug*innen, niemanden erreichen. Später stellt sich heraus, dass die Notrufzentrale völlig unterbesetzt war. Als die Rettungskräfte ankommen, lehnt sich Etris draußen auf der Straße an ein Auto. Es ist das von Vili Viorel Păun. Vili liegt ermordet am Steuer. Als Etris Familie am Tatort ankommt, ist dieser bereits im Krankenhaus.

Çetin beschreibt, wie er von seinem Sohn Mert in der Tatnacht angerufen wird: »Mert klang rau und atemlos, als wäre er gerade einige Kilometer gerannt. Nie zuvor in meinem Leben und nie danach habe ich ihn so sprechen hören. Ich erkannte ihn kaum als meinen Sohn. Baba, du musst sofort zum Kurt-Schuhmacher-Platz kommen, Onkel wurde erschossen, komm, bitte, schnell.« Er fährt zum Tatort wo seine tagelange Suche nach Gogo, Gökhans Spitzname, beginnt. Was ist passiert? Wo ist sein Bruder? Warum erfahren die Angehörigen nichts und werden von den Polizeibeamten so schlecht behandelt?

Çetin Gültekin, Mutlu Koçak: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland. Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau, Heyne 2024.

Eigene Geschichten

Etris erzählt seine Geschichte, indem er zwischen der Gegenwart, den Geschehnissen der letzten vier Jahre und seiner Kindheit und Jugend hin und her wechselt. In jedem Kapitel bezieht er sich dabei auf einen bestimmten Tag, wobei er mit dem 7. Juli 2023 – dem letzten Tag des Untersuchungsausschusses zum Anschlag im hessischen Landtag – beginnt. Çetin hingegen erzählt chronologisch. Er beginnt mit seiner Familiengeschichte und beschreibt, wie der Vater als Gastarbeiter nach Deutschland kam, in welchen Verhältnissen er und Gogo aufgewachsen sind, welche Wege dieser einschlug und wie ihr Verhältnis im Laufe der Jahre zueinander war. Immer wieder flechtet er Erinnerungen, Anekdoten und Trauerbekundungen anderer an seinen Bruder ein. Wut und Trauer sind die Gefühle, die er zu transportieren vermag. Ungeschönt und im Spiegel der rohen Gewalt, die sein Bruder und die Ermordeten von Hanau erfahren haben, ist die Sprache Çetins. Die autobiographische Erzählung endet mit dem Appell »nicht zu vergessen, nicht zu vergeben«, um den Rassismus in der Gesellschaft weiter zu bekämpfen.

Etris möchte mit seinem Buch aufzeigen, welches rassistische System hinter den Morden steckt: »Ich bin mehr als ein Überlebender. Ich bin kein Einzelschicksal. Ich bin mehr als ein Opfer von rechtem Terror und ich will kein Mitleid dafür. Mitleid ändert die Verhältnisse nicht. Stattdessen will ich zeigen, warum mein Bruder gestorben ist. Welches System dahinter steckt. Welche Ideologien und Vorurteile dazu führten. Ideologien und Vorurteile, die überall in Ritzen, Schatten und manchmal sogar im hellen Tageslicht existieren, auch in Polizisten, Lehrern, Beamten, Busfahrern – überall, in der ganzen Gesellschaft.«

Said Etris Hashemi: Der Tag, an dem ich sterben sollte. Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat, Hoffmann und Campe 2024.

Beide klagen mit ihrem klaren und eindringlichen Tonfall die rassistischen Strukturen in den deutschen Behörden an, genau wie die mangelnde Empathie, die schlechte Aufarbeitung und das Verhalten gegenüber den Opferfamilien. Es bleiben keine Fragen offen, bis auf diejenigen, auf die der Staat die Antworten verweigert. Da ist die Frage nach dem Notruf und den Notausgängen. Unklar bleibt, warum den Opferfamilien über eine Woche lang nicht gesagt wurde, wo ihre Angehörigen sind oder warum Nesars Handy im Laufe der Ermittlungen auf Werkseinstellung zurückgesetzt wurde: »Warum macht man das bei einem Opfer eines Terroranschlags? Was sollten denn für wichtige Infos auf dem Handy sein, auf dem Nesar Candy Crush gezockt hatte und endlos durch Instagram gesurft war? Vor allem meine Mutter wollte es unbedingt zurückhaben. Wegen all der Fotos. […] Die Polizisten hatten alles auf dem Handy gelöscht. […] Was wir zurückbekamen, war eine leere Hülle, mit schönen Grüßen von der Polizei.«

Der Anschlag hatte insgesamt nur fünf Minuten und 29 Sekunden gedauert. Keine sechs Minuten vom ersten Tatort am Heumarkt bis hin zu uns am Kurt-Schuhmacher-Platz. Fünf Minuten, 29 Sekunden und 45 Kugeln, die neun Rosen hinterließen. (Hashemi, S. 139)

Was folgt auf den Anschlag von Hanau?

Die Autoren berichten von den Folgen, die der Verlust und die Gewalt vom 19. Februar 2020 für sie und ihre Angehörigen hatten: So beschreibt Etris unter anderem seinen Umgang mit dem Überlebensschuld-Syndrom. Çetins Leben veränderte sich komplett, sein Leben wurde unterbrochen: »Es war als wäre ich mit Gökhan gestorben.« Er berichtet davon, nicht weiterarbeiten zu können, vom Rückzug in die Wohnung der Eltern, um seinem Sohn nahe zu sein und um die Familie – die auf seine Unterstützung angewiesen ist – nicht alleine zu lassen. Nur wenige Wochen nach dem Anschlag verstirbt Çetins Vater.

An vielen Stellen wird deutlich, wie die Familie, Freund*innen und Angehörige auf den Verlust und die schlechte Behandlung durch die Behörden reagierten, die sekundäre Viktimisierung aushielten und durch das Verhalten der Lokalpolitiker*innen rassistisch diskriminiert wurden. Anklage erhebt Çetin gegenüber Politik und Behörden: »Nachdem herauskam, dass Faschisten beim SEK arbeiten, wurden sie einfach umverteilt […] und können dort ihren Hass verbreiten. Wieder einmal gab es keine Konsequenzen. Auch für den Vater nicht.« Der Vater des Attentäters versucht weiterhin, die Familien der Opfer einzuschüchtern.

Aufklären, Erinnern, Kämpfen

Die autobiographischen Komponenten der Texte schaffen Vertrauen, sie bezeugen ihre persönlichen Verluste und politisieren diese. Çetin und Etris sind Zeugen der rassistischen Gewalt, Experten, die den Lesenden vom institutionellen Rassismus in den hessischen Behörden berichten können – und das lange vor dem rechtsterroristischen Anschlag. Ohne die Aufklärungsarbeit der Angehörigen und Engagierten hätte es keinen Untersuchungsausschuss gegeben. Zahlreiche Informationen sind heutzutage nur bekannt, weil Angehörige dafür gekämpft haben.

Hier zeigt sich die Nähe der Autoren, welche verbunden sind in ihrem privaten Verlust und im Kampf gegen Rassismus in all seinen Formen. Gemeinsam sind sie in der Initiative 19. Februar engagiert. Beide drücken aus, wie wichtig die Initiative ist, um sich gegenseitig Halt zu geben und Aufklärungs- und Gedenkarbeit zu leisten: »Wir waren es auch, die erstmals die Opfer in den Fokus rückten und nicht den Täter«, betont Etris.

Wer sich mit der Betroffenenperspektive auf den Anschlag in Hanau auseinandersetzen will, sollte diese Bücher unbedingt lesen. Ein Stück weit sind sie persönliche Trauerarbeit und Verarbeitung aber auch Erinnerungsarbeit. So reihen sich die Bücher in das selbstorganisierte und kraftvolle Gedenken an die Todesopfer von Hanau ein.