Einstellung der »Berliner Zustände«: Zeit für neue Wege
In den vergangenen 16 Jahren informierte der »Schattenbericht« über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in der Stadt. Eine weitere Ausgabe wird es nicht geben. Damit geht für die herausgebenden Projekte – das antifaschistische pressearchiv und bildungszentrum berlin e.V. (apabiz) und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) – eine Etappe zu Ende.
Im Jahr 2007 erschienen die »Berliner Zustände« zum ersten Mal und blickten auf das vorangegangene Jahr 2006 zurück. Ziel sei, so hieß es damals, zu interpretieren, »was Rechtsextremismus eigentlich ist, woher er kommt und wie er bekämpft werden kann. Denn Zahlen sprechen nicht für sich, weder die polizeilichen noch die aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie müssen interpretiert werden und in Beziehung gebracht werden zu dem, was wir vom Rechtsextremismus sonst wissen – im Falle der Berliner Initiativen heißt das vor allem auch, dem Alltag der betroffenen und der engagierten Menschen Rechnung zu tragen.«
Diesem Anliegen verschrieb sich die Publikation in den darauffolgenden Jahren. Dabei ging es bei weitem nicht nur um die organisierte extreme Rechte Berlins, sondern um Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Antiziganismus und den Hass gegen LGBTIQ*, die sich in weiten Teilen der Gesellschaft finden lassen.
Insgesamt sind 14 Ausgaben der »Berliner Zustände« erschienen, die letzte Ausgabe im August 2021. Seit der Erstveröffentlichung gab es in der Stadt zahlreiche Herausforderungen von rechts, die in den Jahren des Erscheinens des Schattenberichts vielfältiger geworden sind. Das gilt etwa für die Straßenmobilisierungen: gegen den Bau einer Moschee in Pankow-Heinersdorf (2006), gegen geplante Asylunterkünfte (2014/2015) oder zuletzt die verschwörungsideologischen Demonstrationen in Mitte gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Das Jahr 2011, in dem sich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst enttarnte, war eine Zäsur. Seither haben wir viel gelernt über rechten Terror, institutionellen Rassismus und schleppende staatliche Aufklärung, aber auch über eigene Versäumnisse wie die fehlende Berücksichtigung der Betroffenenperspektive. Einschneidend war auch der bis heute unaufgeklärte Mord an Burak Bektaş, über den wir seit 2012 mehrfach berichteten. Spätestens mit der rechtsextremen Angriffsserie in Neukölln, die uns in der Redaktion immer wieder beschäftigt hat, ist der Umgang mit Bedrohungen durch Neonazis für viele Berliner Engagierte zum Alltag geworden. Schon vorher war mit dem Nationalen Widerstand Berlin (NW-Berlin) ein Netzwerk von militanten Neonazis in Berlin und darüber hinaus aktiv. Im Bereich der parteiförmig organisierten extremen Rechten sind mit NPD und Pro Deutschland zwei ehemals starke Akteure inzwischen weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Mit der AfD zog eine Partei in die Parlamente ein, die ihre Präsenz nutzt, um flankiert von Netzwerken der »Neuen Rechten« die demokratische Zivilgesellschaft systematisch unter Druck zu setzen und deren Handlungsspielräume einzuschränken.
Mit Spannung und Interesse nehmen wir gleichzeitig aber auch neue Zusammenschlüsse von Engagierten wahr, die sich diesen neuen Herausforderungen stellen, sich gegen die rechten Formierungen zur Wehr setzen, Forderungen artikulieren, Diskurse weitertragen und eigene Projekte starten.
Warum also aufhören, wo es doch so viel zu tun gibt?
Zuletzt wurde es für uns zunehmend schwerer, Autor*innen für das Projekt zu gewinnen. Das mag verwundern, wo doch die Ausgaben jedes Jahr etwas umfangreicher wurden. Obgleich es innerhalb der Berliner Initiativlandschaft weiterhin ein hohes Interesse am »Schattenbericht« gab, stellte die Arbeit für viele eine weitere Belastung in ihrem ohnehin schon vollgepackten Alltag dar. Zeitpläne waren häufig kaum einzuhalten, was die Arbeit der Redaktion zunehmend erschwerte. Diese Entwicklung war bereits vor der Corona-Pandemie zu beobachten, wurde durch sie jedoch noch verstärkt. Zudem hatten wir den Eindruck, dass der »Schattenbericht« in Zeiten der Digitalisierung als gedruckte Publikation immer weniger zeitgemäß ist. So haben zum einen die Wahrnehmung, dass ein Bedarf, zumindest in der bisherigen Form, abgenommen hat, und zum anderen die Erfahrungen, dass der Aufwand für die teilnehmenden Projekte nur noch schwer zu stemmen ist, in der Redaktion schließlich zu der Entscheidung geführt, das Projekt »Berliner Zustände« einzustellen und die Kapazitäten für Neues freizumachen.
Unser Dank gilt …
Unser Dank gilt den Autor*innen und Projekten, die über die Jahre hinweg mit uns an den Ausgaben der »Berliner Zustände« gearbeitet haben und ihre Perspektiven in Artikeln, Interviews und Berichten mit uns geteilt haben. Ein ebenso großer Dank geht an die Layouter*innen, Fotograf*innen und Lektor*innen, ohne die diese Veröffentlichungen nicht möglich gewesen wären. Darüber hinaus wollen wir uns bei allen bedanken, die sich trotz Anfeindungen und politischen Angriffen für ein solidarisches Miteinander in der Stadt einsetzen. Euer Engagement hat uns immer wieder inspiriert und Mut gemacht. Wir wollen euch auch weiterhin in euren Kämpfen mit Rat und Tat unterstützen.
Die Redaktion der »Berliner Zustände« im September 2022
Die Publikation »Berliner Zustände – Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus« wurde seit 2006 jährlich gemeinsam vom antifaschistischen pressearchiv und bildungszentrum berlin (apabiz e.V.) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) herausgegeben. Alle Ausgaben bleiben weiterhin online abrufbar unter schattenbericht.de und mbr-berlin.de.