Auf großer Bühne leise verloren
Die schwedische Hebamme Ellinor Grimmark ist ein prominentes und typisches Beispiel, wie die internationale »Lebensschutz«-Bewegung den Kulturkampf gegen reproduktive und sexuelle Rechte führt. Nun haben die »Lebensschützer« vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine wegweisende Niederlage einstecken müssen.
von Eike Sanders
Der Fall der schwedischen Hebamme, die aus »Religions- und Gewissensgründen« ihre Teilnahme an Abtreibungen verweigerte, sollte ein Präzendenzfall werden. Nach Vorstellung der »Lebensschützer« hätte er viele weitere Menschen dazu bewegt, ihre Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen zu verweigern – als Einzelpersonen, um ihr »Gewissen« rein zu halten, aber vor allem als Masse, die Moral und Ethik gegen die moderne Wertelosigkeit verteidige. Es sollte ein Zeichen an viele andere Religiöse sein, sie ermutigen, sich zu verweigern und so de facto zu einer Einschränkung des Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen führen. »Das Urteil wird Auswirkungen auf mehr als 800 Millionen Europäer in 47 Ländern haben. […] Niemand will einen totalitären Staat, der Ärzte oder Hebammen gegen ihren Willen zu etwas zwingt. Ellinors Geschichte ist eine echte Chance für Europas Gewissensfreiheit«[1], erklärte 2017 Robert Clarke der katholischen »Tagespost«. Clarke ist stellvertretender Direktor und Rechtsberater der christlich-fundamentalistischen Lobby-Organisation Alliance Defending Freedom International (ADF). Für Clarke und die »Lebensschutz«-Bewegung diente der Fall der schwedischen Hebamme viele Jahre als Zugpferd für die Kampagne für Gewissens- und Religionsfreiheit.
Von Jönköping nach Straßburg
Der Fall begann 2012: Ellinor Grimmark, die zunächst in Schweden als gelernte Krankenschwester praktizierte, ließ sich mit Hilfe eines kommunalen Stipendiums 2012 und 2013 berufsbegleitend zur Hebamme ausbilden. In Schweden sind Hebammen sowohl für die Schwangerenbetreuung bei Kinderwunsch als auch bei Abtreibungswunsch zuständig, gegebenenfalls führen sie auch einen medikamentösen Abbruch durch bzw. assistieren bei ambulanten Abtreibungen. Dies alles ist immer Teil der Ausbildung. Grimmark bewarb sich dann als Hebamme bei kommunalen Kliniken und offenbarte später, dass sie keine Abtreibungen durchführen wird, worauf hin Jobzusagen zurückgezogen wurden. Sie wandte sich daraufhin an den »Diskrimineringsombudsmannen« (die schwedische Antidiskriminierungsbehörde der Regierung), denn sie fühlte sich in der Ausübung ihrer Religion und ihrer Gewissensfreiheit eingeschränkt. Während der »Diskrimineringsombudsmannen« 2014 beschloss, dass in diesem Fall keine Diskriminierung vorliege, begann sie sich erfolglos durch alle Instanzen in Schweden zu klagen und häufte Prozesskosten in Höhe von 150.000 Euro an. Schließlich zog sie 2017 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und verklagte Schweden, weil sie ihr Recht auf Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit als verletzt ansah. Knapp drei Jahre später, am 11. März 2020, entschied das Gericht in Straßburg, Grimmarks Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Weder sei sie direkt oder indirekt diskriminiert worden, noch habe es eine Verletzung ihrer Freiheiten gegeben, die nicht von der schwedischen Rechtsprechung gedeckt seien. Nach schwedischer Gesetzgebung habe der Arbeitgeber das Recht, von einem Arbeitnehmer zu verlangen, dass er alle Aufgaben ausführt, die »natürlich« in den berufsbedingten Arbeitsumfang fallen. In der Rechteabwägung in einer demokratischen Gesellschaft rechtfertige dies auch einen Eingriff in die Freiheit der Religion von Grimmark. Außerdem stellte der EGMR fest, dass Schweden landesweiten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen anbietet und daher sein Gesundheitssystem so organisieren müsse, dass sichergestellt ist, dass die Erbringung dieser Dienste nicht durch die Ausübung der Gewissensfreiheit von medizinischem Personal im beruflichen Kontext verhindert werden könne. Grimmark habe sich freiwillig dazu entschieden Hebamme zu werden und sich auf freie Stellen zu bewerben, obwohl sie wusste, dass dies bedeuten würde, auch in Abtreibungsfällen zu helfen. Darüber hinaus war die Beschwerdeführerin infolge der Ablehnungen nicht arbeitslos, da sie weiter bis 2016 bei ihrem vorherigen Arbeitgeber als Krankenschwester angestellt war.[2]
Grimmark wurde von Anfang an von der US-amerikanischen Organisation ADF International und den Scandinavian Human Rights Lawyers (SHRL) unterstützt.[3] Ihre Anwältin Ruth Nordström verlor am selben Tag einen zweiten Fall vor dem EGMR: Auch Linda Steen, ebenfalls zunächst Krankenschwester, dann Hebamme, hatte Schweden erfolglos mit der Hilfe von Nordström, den SHRL und ADF zu verklagen versucht. Auch hier sah der EGMR keine Verletzung von Steens Religions-, Gewissens- oder Meinungsfreiheit.[4]
Die leise Empörung der »Lebenschutz«-Bewegung
Während die juristische Auseinandersetzung vor allem von Grimmark von den großen »Lebensschutz«-Organisationen jahrelang propagandistisch begleitet wurde, bleibt bisher die Resonanz zu den beiden verlorenen Fällen vor dem EGMR gering. Die katholisch-konservative Nachrichtenagentur »CNA deutsch« verkürzt das Geschehen auf ein angebliches Arbeitsverbot der beiden Klägerinnen.[5] Die Schweizer evangelikale Webseite jesus.ch empört sich: »Weil die beiden keine Kinder im Mutterleib töten wollten, durften sie in Schweden nicht als Hebammen arbeiten.«[6] In diesen christlich-fundamentalistischen Berichterstattungen bleiben die schwedischen Spezifika im Berufsbild der Hebammen, die schwedische Wahrung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen durch die entsprechende Organisierung seines Gesundheitssystems zugunsten ihrer Propaganda stark verkürzt wieder gegeben. Ganz ausgeblendet wird über all sowie der Fakt, dass beide als Krankenschwestern weiter beschäftigt blieben. Verkniffen meldet die ADF International: »Das Völkerrecht bietet eindeutig Schutz für das Recht auf Gewissensfreiheit. […] Anstatt Hebammen und andere Mediziner aus ihrem Beruf zu zwingen, sollte Schweden versuchen, ihre moralischen Überzeugungen zu wahren«, so der Geschäftsführer Paul Coleman. Die Scandinavian Human Right Lawyers veröffentlichten eine Pressemitteilung, in der Grimmarks und Steens Anwältin Ruth Nordström zitiert wird: »Es ist bedauerlich, dass Hebammen, die sich auf Gewissensfreiheit berufen, grundsätzlich von der Ausübung ihres Berufs in Schweden ausgeschlossen sind.« In Deutschland hat die evangelikale Dachorganisation Deutsche Evangelische Allianz in ihrer Publikation idea nur sehr kurz über die abschließende Entwicklung der Fälle berichtet und zitiert ebenfalls Coleman: »Niemand sollte gezwungen werden, sich zwischen seinem Beruf und seinem Gewissen zu entscheiden.« Doch anders rum wird ein Schuh daraus: Niemand wird gezwungen einen Beruf zu erlernen, dessen zentralen Tätigkeitsfelder er oder sie nicht bereit ist auszuführen.
Präzedenzfälle und umkämpfte Deutungshoheiten
Wie wichtig der Widerstand gegen eine christlich-fundamentalistische Auslegung des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit ist, zeigt sich in vielen internationalen Fällen, durch die »Lebensschützer« versuchen, diese Menschenrechte gegen andere (Menschen-)Rechte auszuspielen. Sie wollen so auch Antidiskriminierungsgesetze umgehen oder für sich ummünzen, um durch Bezugnahme auf ihren christlichen Glauben reproduktive und sexuelle Rechte von Frauen und Minderheiten einzuschränken. Das hat ganz konkrete Auswirkungen: Dort nämlich, wo sich medizinisches Personal in großer Zahl auf das in fast allen Ländern zugesicherte Recht auf Weigerung beruft, ist das Angebot für Schwangerschaftsabbrüche stark eingeschränkt. In Italien sind Abtreibungen in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft legal, doch inzwischen weigern sich rund 70 Prozent, regional über 90 Prozent, aller Ärzt*innen, den Eingriff vorzunehmen. Dies bedeutet nicht nur, dass ungewollt Schwangere schikaniert und diskreditiert werden, dass sie in benachbarte Provinzen oder gar ins Ausland reisen, um dort den Abbruch zu bekommen, dass eine Abtreibung so unter Umständen extrem teuer wird. Es kann bei Komplikationen auch mit dem Tod der Schwangeren enden: »Da sind Frauen gestorben, weil irgendjemand abgelehnt hat, eine Abtreibung durchzuführen – was deren Leben gerettet hätte. Wenn wir nicht verstehen, was da geschieht, können wir uns nicht verteidigen«, zitiert die tagesschau in einem Bericht über die Situation in Italien die Gynäkologin Elisabetta Canitano.[7] Es sind eben nicht nur einzelnen Hebammen wie Grimmark und Steen oder einzelne Ärzt*innen, sondern die internationale »Lebensschutz«-Bewegung und religiöse Lobby-Organisationen, die in den letzten Jahren massiven Druck auf Abbrüche anbietende Ärzt*innen, die Politik und Rechtsprechung auszuüben versuchten. Ihr breit angelegter Kulturkampf will die Rechte von Frauen auf körperliche Selbstbestimmung ebenso einschränken wie die Rechte von LGBTIQ. Getragen von einem massiven rechten Aufschwung schlagen sich rechte Politik und Stimmungsmache im Alltag und auf der Straße nieder. In Polen erklären sich seit 2019 immer mehr Städte und Gemeinden als »LGBT-freie Zonen«, in Italien geben Städte sich Titel wie »Stadt für das Leben«, so das italienische Verona.[8] Mit der Argumentation, dass sexuelle Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft aggressiv ihre »LGBT-Ideologie« aufzwingen und somit die traditionelle Familie bedrohen würden, werden Minderheiten mundtot gemacht und bedroht, emanzipatorische Errungenschaften werden zunehmend in Frage gestellt. Umso wichtiger sind diese Entscheidungen des EGMR, die sehr wohl als Präzendenzfälle verstanden werden müssen. Auch wenn nationale Rechtsprechungen unangetastet bleiben und queerfeministische Kämpfe vor Ort entscheidend sind, auch wenn die Nationalist*innen europafeindlich bleiben und sie weiterhin die Legitimität europäischer Institutionen in Frage stellen, so können verlorene Kämpfe um christlich-fundamentalistische Deutungshoheiten den großen Playern wie ADF und SHRL wenigstens diese Bühne nehmen und die rechten Allmachtsbestrebungen in ihre Schranken weisen.
- ↑ o.A.: Entscheidung zwischen Beruf und Glauben, in Tagespost, online am 15. Dezember 2017: https://www.die-tagespost.de/aktuelles/forum/Entscheidung-zwischen-Beruf-und-Glauben;art345,184118; zuletzt am 22.3.2020.
- ↑ Grimmark v. Sweden, no. 43726/17, 12.03.2020.
- ↑ Zum Fall Grimmark und der Einordnung vgl. auch Sanders/ Achtelik / Jentsch (2018): Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der ›Lebensschutz‹-Bewegung, S. 105 ff.
- ↑ Steen v Sweden, no. 62309/17, 12.03.2020.
- ↑ CNA berichtet von zwei schwedischen Krankenschwestern, »denen verboten wurde, weiter als Hebammen zu arbeiten, weil sich sich weigern, Abtreibungen durchzuführen.« Susanne Finner: Gerichtshof für Menschenrechte weigert sich, Pro-Life-Krankenschwestern anzuhören, CNA deutsch online am 16.3.2020: https://de.catholicnewsagency.com/story/gerichtshof-fur-menschenrechte-weigert-sich-pro-life-krankenschwestern-anzuhoren-5921; zuletzt am 31.3.2020.
- ↑ Reinhold Scharnowski: Schweden: Hebammen müssen bei Abtreibungen helfen, jesus.ch online am 19.3.2020: https://www.jesus.ch/magazin/gesellschaft/ethik/366331-schweden_hebammen_muessen_bei_abtreibungen_helfen.html; zuletzt am 31.3.2020.
- ↑ Ellen Trapp: »Weltspiegel« über Abtreibungen in Italien: »Zurück ins Mittelalter«, tagesschau online vom 05.03.2019, https://www.tagesschau.de/ausland/abtreibungen-italien-101.html, zuletzt am 22.3.2020.
- ↑ Derzeit haben sich in Polen über 90 Landkreise, Gemeinden oder Provinzen zur »LGBT-ideologiefreien«-Zone erklärt, das entspricht gut einem Drittel des Landes. Im Dezember 2019 beschloss das Europäische Parlament, diese Zonen zu verurteilen. Polnische LGBT-Aktivist*innen, den den diese Zonen kartierenden »Atlas des Hasses« betreiben, werden derzeit von den einflussreichen rechtskonservativen Katholiken von Ordo Luris verklagt. Vgl: Susanne Romanowski: Immer mehr »LGBT-freie Zonen« in Polen, nd online vom 05.03.2020: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133859.homophobie-immer-mehr-lgbt-freie-zonen-in-polen.html; zuletzt am 22.3.2020. In Italien hat sich Verona als »Stadt für das Leben« erklärt. Verona war zuletzt Austragungsort des »World Congress of Families«, wo sich religiöse Würdenträger, private Organisationen, Vertreter*innen offizieller staatlicher Stellen und konservative oder (extrem) rechte Politiker*innen treffen, um ihr heteronormatives Familienbild und antifeministische Politik zu stärken. vgl: Patricia Hecht u.a. in der taz, bspw: Die unheilige Allianz, taz online vom https://taz.de/Europaweite-taz-Recherche/!5554584/ und Patricia Hecht: Beten gegen »Genderideologen«, taz online vom 31. 3. 2019, https://taz.de/Ultrakonservativer-Kongress-in-Verona/!5584335/; zuletzt am 22.3.2020.