Symbolbild.  Foto: Barbara Dietl/dietlb.de

Die Rechte und der NSU – Teil 2

Nach fünf Jahren und 438 Verhandlungstagen endete im Juli 2018 der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München. Nicht nur der Gerichtsprozess, auch die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wurden durch (extrem) rechte Periodika zahlreich kommentiert. Welche Narrative zum NSU haben sie geschaffen? Die apabiz-Publikationsreihe magazine nimmt rechte Periodika unter die Lupe, beleuchtet zentrale Diskurse und schafft damit eine Grundlage für die argumentative Auseinandersetzung.

von Kilian Behrens, Vera Henßler, Ulli Jentsch, Frank Metzger, Eike Sanders und Patrick Schwarz

Teil 1 des Artikels »Die Rechte und der NSU«  ist hier nachzulesen. Die gesamte Artikel ist auch als pdf abrufbar. Der Artikel erscheint im Rahmen der neuen apabiz-Publikationsreihe magazine.

Same, same, but different? – Die NPD-Zeitung Deutsche Stimme

Mit der Aufdeckung des NSU und dem anschließenden Prozess in München rückte die NPD vermehrt in den Blick von Justiz, Öffentlichkeit und Politik. Nicht nur ideologische, sondern auch personelle Überschneidungen, wie z.B. der angeklagte frühere stellvertretende Landesvorsitzende in Thüringen, Ralf Wohlleben, sind Indizien für die Schnittstellen zwischen der Partei und dem rechtsterroristischen Netzwerk. Als Anfang 2013 ein zweites NPD-Verbotsverfahren in Gang kam, geschah das maßgeblich vor dem Hintergrund des NSU-Prozesses.

Dennoch ist der NSU in der NPD-Monatszeitung Deutsche Stimme (DS) nur selten Thema gewesen. In den wenigen Artikeln lagen die Schwerpunkte auf den mutmaßlichen Verstrickungen von Geheimdiensten sowie in der Zurückweisung der durch die kritische Öffentlichkeit immer wieder erfolgten Hinweise auf die NPD als beteiligtem politischen Akteur. Schon der Titel der ersten Erwähnung des NSU gab die Hauptlinie der Berichterstattung vor, die konsequent verfolgt wurde: »Staatsterror abschalten! – ‚Verfassungsschutz‘ verbieten: Wie in Deutschland Dissidenten stigmatisiert und kriminalisiert werden« (03/2012). Der bayerische NPD-Funktionär Roland Wuttke, zeitgleich Autor des Neonazi-Magazins Volk in Bewegung, meint darin: »Die Zielsetzung ist klar: die organisierte volkstreue Opposition soll verboten und zerschlagen werden.« Dass der NSU als Instrument gegen die Neonaziszene etabliert worden sei, untermauert Wuttke mit einer Aufzählung von bekannten Verstrickungen von Verfassungsschutz und rechten Strukturen aus den letzten Jahrzehnten. Dem folgend fordert er: »Die Machenschaften der Geheimdienste des Besatzungsregimes BRD verlangen eine rücksichtslose Aufklärung und die Verurteilung aller Verantwortlichen. Verbietet endlich den ‚Verfassungsschutz‘.« Auch über die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wurde berichtet. Im ersten sächsischen Untersuchungsausschuss (2012-2014) war die NPD mit ihrem damaligen Landtagsabgeordneten Arne Schimmer vertreten. Schimmer schrieb darüber mehrfach in der DS, nicht ohne seine Partei als kritische Kraft gegenüber der etablierten Politik und dem Verfassungsschutz darzustellen. Zur Verbreitung von verschwörungsideologischen Ansätzen zum NSU griff die DS direkt auf eine der Hauptquellen aus diesem Milieu zurück. So präsentierte das Blatt ein umfangreiches Interview mit Siegfried Mayr von NSU Leaks über deren Theorien und Arbeitsweise (2/2015). Bereits zuvor hatte Schimmer eine ganzseitige Rezension des Buches »Das NSU-Phantom« von Kai Voss aus den österreichischen Ares-Verlag zur Untermauerung der Verfassungsschutz-Kritik der NPD verfasst (12/2014). Neben der (indirekten) Distanzierung gegenüber den Taten gab es, vermutlich aus taktischen Gründen, keine offiziellen Solidaritätsbekundungen der NPD gegenüber den Angeklagten in München.

»Legende«, »Lüge« – Leugnung pur – Volk in Bewegung

Auch das Neonazimagazin Volk in Bewegung (ViB) aus dem Hause des NPD-Bundesvorstandsmitglieds Thorsten Heise schrieb mehrfach über den NSU. Erneut ist es meist Roland Wuttke, der sich als Stammautor des Magazins dem Thema widmet. Der Tenor ist eindeutig: Der NSU-Komplex sei »Inszenierung«, »Legende«, »Psychose« oder »Lüge«. Die Morde seien durch ausländische Agenten getätigt worden. Da die Justiz dieser nicht habhaft werden könne, werde die Mordserie nun den »nationalen« Strukturen untergeschoben. Eine Version, wie es gewesen sein könnte, wird direkt mitgeliefert: Demnach habe es Mitte Juni 2011 ein streng geheimes Treffen im Bundesinnenministerium gegeben. Zugegen: Staatssekretär Klaus Dieter Fritsche (CSU), Jörg Ziercke (Vorsitzender des BKA), Heinz Fromm (Vorsitzender des Bundesamtes für Verfassungsschutz) sowie der Spiegel-Redakteur Stefan Aust, der Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann und zwei Vertreter der Bundesanwaltschaft. Sicherheitsbehörden, Justiz und Medien hätten demnach gemeinsam beschlossen, die Morde der Neonaziszene zuzuschieben und die Spuren entsprechend zu präparieren. Neben der Rolle des Verfassungsschutzes wird vor allem die der Medien beklagt, die mit ihrer Berichterstattung bereits Tatsachen geschaffen hätten. Der langjährige ViB-Autor Rigolf Hennig sieht hinter der Medienberichterstattung gar die »Hochfinanz« wirken, »die ein klares Interesse daran hat, Deutschland unter latenten Nazi-Verdacht zu stellen.« So kommen zentrale Narrative der Holocaustleugner-Szene, die sich in der Volk in Bewegung durch mehrere Autoren gut vertreten fühlen kann, auch beim Thema NSU nicht zu kurz. Angesichts der Reproduktion zentraler verschwörungsideologischer Narrative (Inszenierung des NSU, der dritte Mann, Zschäpe werde mit ihrer Tochter erpresst usw.) neigen manche Passagen zur Absurdität, etwa wenn sie Verschwörungsideologien vor allem auf linker Seite ausmachen. Diese profitiere vom »NSU-Märchen« und sehe sich in ihrer »Verschwörungstheorie« einer »nazistisch belasteten BRD« bestätigt. Letztlich profitierten vom NSU nahezu alle, mag man der Volk in Bewegung Glauben schenken, außer natürlich das eigene politische Spektrum.

Die Quellen zur Berichterstattung

Die Mehrzahl der analysierten Periodika bezieht sich in der NSU-Berichterstattung neben einschlägigen rechten Blogs wie NSU-Leaks durchaus auch auf seriöse Quellen. Mal mehr, mal weniger suggestiv werden Widersprüche und ungeklärte Fragen, die etwa durch Aussagen von Zeug*innen und Expert*innen vor Gericht oder in den Untersuchungsausschüssen deutlich werden, zum Ausgangspunkt der eigenen Erzählung zum NSU.

Die Compact garniert ihre Berichterstattung zum NSU auch mal mit ausführlichen Auszügen aus den Berichten der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Schon auf der Titelseite der Compact Edition zum NSU aus dem Jahr 2017 wird der Abdruck von »Originaldokumenten« aus den Untersuchungsausschüssen beworben, die dann als redaktionell ausgewählte Zitatauszüge auch seitenweise im Heft zu finden sind. Ein investigativer Akt ist dies nicht, denn die Berichte der Untersuchungsausschüsse sind als Parlamentsdokumente frei verfügbar. Mitunter bezieht sich Compact gar auf die publizierten Mitschriften der Landtagsabgeordneten der Linkspartei, Katharina König-Preuss, aus dem Thüringer Untersuchungsausschuss, die sie auf ihrer Homepage veröffentlicht hat. Die abgedruckten Zitate aus den Berichten hat die Redaktion schließlich mit Rotstift kommentiert, um so auf vermeintliche oder tatsächliche Widersprüche aufmerksam zu machen oder die Auszüge als faktenresistente Meinungen von Einzelpersonen zu markieren. Andere Zeitschriften, etwa die Volk in Bewegung, reduzieren sich in ihren Artikeln hingegen auf die Medienberichterstattung zum Prozess und den Untersuchungsausschüssen, die dann entsprechend kommentiert wird. Im Unterschied zur seriösen NSU-Berichterstattung, die Fragen als Fragen formuliert, »so lange bis es faktengestützte, nachprüfbare Antworten gibt«,[1] wird die fragende Haltung bei der Mehrzahl der rechten Periodika durch einen Habitus ersetzt, der passende Antworten bietet. Besonders deutlich wird dies in der Volk in Bewegung, die in ihren Artikeln mehrfach Szenarien entwirft, die der Wahrheit aus ihrer Sicht wohl nahe kämen (»So könnte es gewesen sein«).

Auffällig ist der mitunter paradoxe Umgang der Periodika mit der NSU-Berichterstattung in den etablierten Medien. Obwohl alle Magazine die Ablehnung der Medienberichterstattung zum NSU teilen und diese als politisch gelenkt begreifen, dienen ausgewählte Artikel aus eben diesen Zeitungen der Untermauerung des eigenen Standpunktes. Ein Beispiel dafür ist der Zuerst!-Autor Bernhardt Radtke. Zur Bekräftigung seiner Thesen verweist er in seinem Artikel »Ewiges Rätsel NSU« (10/2018) mehrfach auf die in der Zuerst! ansonsten als »Lügenpresse« diffamierten Medien. So finden sich in dem Artikel affirmativ verwendete Zitate aus dem Spiegel, Welt-Online, Süddeutscher Zeitung oder auch einer ZDF-Reportage. Seiner süffisant-rhetorischen Frage »Der NSU – ein Produkt des Geheimdienstes?« stellt Radtke ein Zitat von Frank Jansen aus dem Tagesspiegel voran, in dem dieser spekuliert, Tino Brandt habe »womöglich Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zum bewaffneten Kampf« animiert. Geliebt, gehasst, vergöttert, so könnte, zugegebenermaßen etwas zugespitzt, das Verhältnis zur etablierten Presselandschaft beschrieben werden.

»Eine Wundertüte namens Wohnmobil« – Das Magazin CATO

Unter dem Titel »Eine Wundertüte namens Wohnmobil« thematisiert das seit 2017 zweimonatlich erscheinende Magazin Cato – Magazin für neue Sachlichkeit erstmalig den NSU (1/2018). Darin präsentiert der selbsterklärte ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Walther Vest, der darüber hinaus publizistisch bisher nicht in Erscheinung getreten ist, eine umfassende Kritik an Politik und Medien. Nach Einschätzung des Autors schrieb eine nicht näher spezifizierte Politik »eine Interpretation vor, der sich in den folgenden Jahren alle Behörden, Parlamente und Medien unterwerfen. Geschickt überwölbt sie ein anstehendes Strafverfahren mit einem politischen Urteil, das den angeblichen Kern der noch zu ermittelnden Handlungen per Mehrheitsbeschluss fixiert. Gewaltenteilung und Unschuldsvermutung müssen in der causa NSU hintanstehen.« Analog zur Politik sieht Vest die Medien als zweiten monolithischen Block, der »fast keine kritische Medienberichterstattung« tätigt. Sein Beweis: »Wenn die Politik will, behaupten die Medien Erstaunliches.« Neue Thesen zu vermeintlichen Ungereimtheiten im Fall NSU, welche nicht bereits von anderen ausgeführt wurden, vermag der Autor nicht zu nennen. Die Opfer des NSU nennt er, abgesehen von Michèle Kiesewetter, nicht namentlich. Um die Opfer geht es ihm aber auch nicht. Neben der Reproduktion bekannter Widersprüche von Einzelaspekten besteht sein Hauptanliegen darin, eine Lenkung der Medienberichterstattung durch die Politik herbei zu phantasieren. Dass diese Lenkung weder näher erläutert noch die (historische) Dimension des NSU als rechtsterroristische Gruppierung erkannt wird, ist dabei nur ein Aspekt der Vest‘schen NSU-Betrachtung. Vest bemängelt, dass eine kontroverse öffentliche Debatte beim Thema NSU ausgeblieben sei. Als einzige Ausnahme nennt er »ein anonymes Team, das erkennbar Fachverstand besitzt« und umfangreiches Material zum NSU veröffentlicht habe. Gemeint ist wohl der Blog NSU-Leaks.[2] Hier sind vermutlich auch die meisten Thesen des Autors zum Wirken des NSU entnommen, etwa die, dass die TäterInnen wohl eher im kriminellen nichtdeutschen Milieu zu suchen wären. Auf die Spitze getrieben wird der relativierende Zynismus des Artikels durch die Abbildungen von Fahrzeugen eines gleichnamigen Fahrzeugherstellers.

»Antifaschismus als Staatsdoktrin« – Die Junge Freiheit

Die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) berichtete in den vergangenen Jahren in großen Abständen und von Anlässen getrieben über den NSU-Komplex und den Prozess: Der Prozessauftakt, die Aussage Zschäpes, die Einlassung Wohllebens. Da der Rahmen für eine ausführliche Auswertung an dieser Stelle nicht gegeben ist, konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Berichterstattung zum Urteil im NSU-Prozess.

Den ersten Artikel über das Ende des »längsten und aufwendigsten« Indizienprozesses der Nachkriegsgeschichte verfasst Hinrich Rohbohm, ein ehemaliger CDUler, der über die Jahre hinweg immer wieder über den NSU-Prozess schrieb. Rohbohm berichtet kurz und knapp über den letzten Prozesstag, wobei es unklar bleibt, ob er im Saal 101 selber anwesend war, seine Schreibweise legt das zumindest nahe (JF Online, 12.07.2018). Er reproduziert dabei etliche sattsam bekannte rechte Ansichten über den Prozess, die er vorher bereits selbst verbreitet hat – ebenso wie zugegebenermaßen manche seriösere Blätter auch. Rohbohm macht klar, dass der Richter Götzl in vielen Punkten dem Plädoyer der anklagenden Behörde gefolgt war. Übertrieben scheint jedoch seine Wahrnehmung, Götzl habe »auch den Verfassungsschutzämtern (…) in seiner Urteilsbegründung einen Seitenhieb mit auf den Weg« gegeben. Ob er einen dieser Punkte positiv oder negativ wahrgenommen hat, bleibt offen. In der Kritik Rohbohms‘ stehen immer wieder die Nebenkläger*innen und ihre Vertretungen. Sie gelten ihm als »linksradikal«, so wie die anwesenden Neonazis als »rechtsradikal«. Die »linksradikalen Gruppen« vor dem Gericht versuchten, »die Taten des NSU für ihre Zwecke zu instrumentalisieren«. Das Interesse der Linken an dem Verfahren sei ohnehin vor allem dem »günstigen Zeitpunkt« des Bekanntwerdens geschuldet, denn damals habe schließlich Kristina Schröder – ein jahrelanger Liebling der JF – gerade begonnen, als Familienministerin die Linksextremen unter die Lupe zu nehmen, die sich gegen rechts engagierten. Die Existenz des NSU habe der »radikalen Linken« wieder Auftrieb gegeben, die damals gerade eingeführte Extremismusklausel wurde gekippt – und Schröder verschwand von der großen Bühne. Je weiter sich Rohbohm vom Gerichtssaal entfernt, umso aggressiver wird sein Duktus. Für die Unterstützer*innen draußen hat er nur verachtende Worte und warnt davor, das Szenario sei »wie zu dunklen Zeiten« – er meint wohl den Nationalsozialismus.

Zu der allgemeinen Diskreditierung der Nebenklage kommt der Versuch, den NSU und die Politik darum mit aller Gewalt in ein größeres Bild einzupassen: das einer angeblichen antifaschistischen Staatsdoktrin der neuen Bundesrepublik. Während Rohbohm einigermaßen nüchtern, aber nicht ohne Verweis auf »gleich fünf« gestorbene Zeugen und die politische Aufladung des Prozesses dessen Ausgang beschreibt, ist in der selben Ausgabe Thorsten Hinz für die Verortung im »politisch-medial-zivilreligiösen Deutungsrahmen« zuständig. Unter dem Titel »Eine Frage der Staatsräson« (JF 30/18) versucht er, die »zahlreichen Unstimmigkeiten« des »NSU-Mysteriums« in eine größere Erzählung einzubringen. Es liege »dichter Nebel über den Morden an neun türkischen und griechischen Kleinhändlern (sic!) und der Polizistin Michèle Kiesewetter.« Die Sprache in diesem Artikel versucht zu überwältigen, wo keine Fakten geliefert werden können, und das kann Hinz kaum. So bemüht er ausgerechnet Clemens Binninger (CDU), ehemals Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, um Zweifel an der Täterschaft des Trios an den Morden zu säen. Zu diesem Zweck zitiert er Binninger über 25 lange Zeilen mit Worten, in denen er vor allem seinen Zweifeln Ausdruck gibt, dass das Trio keine Helfershelfer in den Tatortstädten gehabt haben soll. Und keine DNA-Spuren gefunden wurden. Wohlgemerkt: Binninger als ehemaliger Polizist stellte zwar die Ermittlungsergebnisse der Polizei, jedoch nicht die Verantwortung des NSU-Kerntrios in Frage.

Aber Hinz möchte den NSU als Staatsverbrechen. So kommt er im nächsten Satz auf das sogenannte »Heilbronner Phantom« zu sprechen und auf den Fall Peggy. Ungestüm holpert Hinz von einer Halbwahrheit zur nächsten und geht schließlich zurück an den Anfang, nämlich zur Gedenkfeier im Februar 2012, wo zwölf Kerzen – zehn für die Ermordeten, die elfte für alle bekannten und unbekannten Opfer rechtsextremer Gewalt und die zwölfte für die Zuversicht – angezündet worden waren: »Damit war die in der griechischen Mythologie und im christlich-jüdischen Religionskreis magische Zahl erreicht und wurden die Ermordeten als Blutzeugen und Stifter eines neuen Gründungsmythos der Bundesrepublik geheiligt.« Seitdem habe es keine »ergebnisoffenen« Ermittlungen, Berichterstattung und künstlerische Verarbeitungen mehr geben können. Hinz überführt die These der antifaschistischen Staatsräson in ein bekanntes Topoi der extremen Rechten: die Schuldgemeinschaft. »Dem zivilreligiösen Bezug auf den historischen Nationalsozialismus wird der quasireligiöse Bezug auf einen angeblichen Neonazismus – in der Variante der Fremdenfeindlichkeit – zur Seite gestellt« um dann zu behaupten, dass aus diesem »sekundäre[n] Schuld- und Opfermythos« die »Pflicht« abgeleitet würde, »Migranten aufzunehmen und zu verköstigen«.

Zu der allgemeinen Diskreditierung der Nebenklage kommt der Versuch, den NSU und die Politik darum mit aller Gewalt in ein größeres Bild einzupassen: das einer angeblichen antifaschistischen Staatsdoktrin der neuen Bundesrepublik.

Im Artikel von Torsten Hinz wird vor allem deutlich, dass das trotz aller Lücken naheliegendste Narrativ zum NSU-Komplex die von der Jungen Freiheit herbei gesehnte nationalistische Formierung stört: Nämlich dass ein (vielfach belegtes) behördliches Multi-Versagen mit (vielfach belegtem) institutionellem Rassismus gepaart zu einer faktischen Unterstützungshandlung einer rechtsterroristischen Mordserie geführt hat, die zumindest an ein Staatsverbrechen grenzt, weil sie Teile der Bevölkerung schutzlos schweren Verbrechen ausgeliefert hat. Und so dreht die JF das Aufklärungsinteresse am NSU-Komplex zu einer Inszenierung der Linken.

Aufarbeitung als »kollektive Psychose« – Die Sezession

An das Narrativ der Jungen Freiheit knüpft die Sezession unmittelbar an. Insgesamt ist in dem neurechten Magazin rund um den Verleger Götz Kubitschek zum Thema NSU kaum etwas zu finden. Das überrascht nicht, denn das Heft greift eher selten tagesaktuelle Ereignisse auf. Einzelne Ausnahmen gibt es allerdings doch. So beschäftigt sich der JF-Autor Felix Krautkrämer in einem Gastbeitrag für die Sezession mit den vielen offenen Fragen, und kritisiert dabei auch den Stil der Berichterstattung in Medien wie Compact: »Der umfassend ins Thema eingearbeitete Compact-Autor Kai Voss (…) stellt dabei durchaus die richtigen Fragen, geht aber weit über abgesicherte Antworten hinaus und bietet letztlich eine komplette Geschichte an.« (Nr. 53/2013) Es sei wichtig, so Krautkrämer, die offenen Fragen stets in Erinnerung zu rufen und dies bedächtig und anhand der Fakten zu tun, damit Kritik an der offiziellen Version nicht schon vor vornherein als Verschwörungsideologie abgetan werden könne.

Einen anderen Ton legt hingegen Martin Lichtmesz an den Tag. Ausgangspunkt einer redaktionsinternen Debatte war sein Text »Die Schweigeminute« auf dem Blog der Sezession, der sich ebenso wie später Hinz in der JF an der offiziellen Gedenkfeier an die Opfer des NSU im Februar 2012 abarbeitet. Äußerst polemisch schildert der Autor die Stimmung jener Tage: »Putzfrau putzt nicht mehr, Verkäuferin verkauft nicht mehr, Kindergärtnerin kindergärtnert nicht; Rauchfangkehrer rauchfangkehrt nicht mehr, Bäcker bäckt nicht mehr, Pfarrer pfarrt nicht mehr, Bauarbeiter baut nicht, Lehrer lehrt nicht. (…) Der Sezessionist, der gerade ein Buch über Massenwahn und kollektive Psychosen liest, hält inne in seiner frivolen Lektüre.« In dem Artikel nimmt der langjährige Autor der Sezession auch Bezug auf Merkels Entschuldigung, die sich an die Angehörigen der Mordopfer richtete. Dass diese über viele Jahre lang zu Unrecht unter Verdacht gestanden hätten, sei besonders beklemmend, so Merkel. Der Text endet mit dem Satz »Und i muaß jetzt glei speibn.« Das offizielle Gedenken als staatliche Heuchlerei, als »kollektive Psychose«. Die Sezession ist zwar weit davon entfernt, Verschwörungsideologien rund um den NSU zu spinnen oder dessen Existenz zu leugnen. Doch auch hier wird eigenes politisches Kapital aus dem NSU-Komplex geschlagen. Der Publizist Karlheinz Weißmann, zu diesem Zeitpunkt noch Autor der Sezession, reagiert auf den Text mit Ablehnung, er sei »geschmacklos«. Von einem anderen Autoren des Blatts wird er hingegen, ausgerechnet mit Rekurs auf Kurt Tucholsky, als Satire verteidigt. So heißt es unter der Überschrift »Was darf Satire?«, Lichtmesz habe lediglich der »seit 1945 eingebleuten Büßerhaltung« etwas entgegen gesetzt. »Sein Einspruch gegen emotionale Erpressung, politischen Bekenntniszwang, Marionettenmoral, tränenreiche Heuchelei, Mea-culpa-Kult mit verhetzender Wirkung auf unangepaßte Volksgruppen – in summa: totalitäre Gesinnungslenkung im Dienst multiethnischer Illusionen – berührt unser zentrales Anliegen.« (Nr. 47/2012) Et voilà, trotz des durchaus anderen Stils landet die Sezession somit ebenfalls gekonnt bei dem aus ihrer Sicht wahren und einzigen Opfer der Geschichte: dem eigenen politischen Milieu.

 


Titelbild: Symbolbild. Nicht nur auf grafischer Ebene ist der Zugang zu den Akten des NSU-Komplexes erschwert. Die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse mussten die Einsicht vielfach erstreiten. Einzelne Akten sind unwiderruflich vernichtet worden. Für diese Ausgabe haben wir daher auf Fotos unseres eigenen Archivbestandes zurückgegriffen. Dieser darf übrigens eingesehen werden. Foto: Barbara Dietl/dietlb.de

  1.  So der Autor des Buches »Heimatschutz«, Dirk Laabs, vgl. »Der NSU und die Medienberichterstattung« von Heike Kleffner auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung vom 20.01.2017.
  2.  Vgl. dazu »Der Fatalist« Desinformation als Strategie, in: Der Rechte Rand, Nr. 158/2016, online auch auf nsu-watch.info