»Zwischen der ewigen Vergangenheit und der ewigen Zukunft«
Das Verhältnis der Identitären zur Geschichte
Walter Benjamin sah in Paul Klees Zeichnung Angelus Novus den Engel der Geschichte, der in die Vergangenheit zurückschaut. Wo wir eine »Kette von Begebenheiten« sehen, erblickt er »eine einzige Katastrophe«. Die Identitären blicken zurück auf die Vergangenheit, um Ereignisse als politische Mythen aufzubauen und damit für ihre eigene politische Agenda zu mobilisieren.
von Vera Henßler
Es ist dunkel, doch die Bühne auf dem 425 Meter hohen Leopoldsberg ist vom Feuerschein dutzender Fackeln einigermaßen beleuchtet. In der Ferne funkeln die Lichter Wiens. Martin Sellner betritt die Bühne. Es ist der 9. September 2017 – die Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) hat anlässlich der Schlacht am benachbarten Kahlenberg im Jahr 1683 zum »Gedenkzug zur Erinnerung an die Befreiung Wiens und die Verteidigung Europas« mobilisiert. Die Schlacht leitete das Ende der zweiten Belagerung Wiens durch das Osmanische Reich ein. Mehrfach kommt Sellner in seiner Rede auf die scheinbar ungebrochene Linie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen. Die Zukunft, die in den Händen dieser »letzten Jugend ohne Migrationshintergrund« liege. Es mangelt nicht an Pathos. Sellner spricht nicht zu Menschen, zu Individuen, er spricht zu mythischen Gestalten, wenn er betont: »Jeder einzelne von uns ist Jahrtausende alt. Und so wie wir heute hier stehen, auf diesem historischen Ort, auf diesem Boden, auf dem unsere Vorfahren gekämpft haben sind, wir die Schnittstelle, zwischen der ewigen Vergangenheit und der ewigen kommenden Zukunft unserer Identität und unserer Tradition. Und bis jetzt hat jedes Kettenglied standgehalten in dieser Generationenfolge, hat standgehalten, hat abgewehrt und hat das Erbe, nämlich unser Land, wie einen Schatz an die nächste Generation weitergegeben. Werden wir standhalten?« Standhalten wogegen? Es folgt ein Endzeitszenario, das sich derzeit in Österreich abspielen würde: Vergewaltigungen, Morde, »ein unsichtbarer Krieg. Ein Krieg ohne Uniformen, aber ein Krieg mit Opfern und die Opfer sind alle auf unserer Seite.« Schließlich wird die Gemeinschaft der rund 150 DemonstrantInnen, die sich an diesem Abend versammelt haben, auf den Kampf eingeschworen: »Werden wir als die entscheidende Generation, die heute die Aufgabe hat, die heute die Wache hat, werden wir zulassen, dass unter unseren Augen Wien fällt?« »Nein!« – ruft die Menge. »Werden wir zulassen, dass unter unserer Wache, unter unserer Pflicht und Verantwortung Österreich untergeht? Nein!«
Die Szene, die sich an diesem Abend am Rande Wiens abspielt, verdeutlicht nahezu prototypisch die Funktion ausgewählter historischer Ereignisse für die identitäre Selbstverortung und ihre politische Agenda. Gut 30 Jahre nach der zweiten Belagerung Wiens besiegte die kaiserliche Armee, die von Prinz Eugen von Savoyen befehligt wurde, die Osmanen bei Belgrad, die sich daraufhin aus der Region zurückzogen. Auch Prinz Eugen wird von den Identitären popkulturell gewürdigt. Ein Aufkleber der IB fordert: »Prinz Eugen, Leonidas, Karl Martell – do it again!« Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit – verschiedene Epochen, verschiedene Regionen, verschiedene Heeresführer und ganz unterschiedliche kriegerische Auseinandersetzungen dienen den Identitären hier als Referenz.
Mythos und Revolte
Die historischen Anleihen der Identitären lassen sich als politische Mythen begreifen. Demnach dienen historische Ereignisse einem politischen Zweck, wie der Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit und Identität. Politische Mythen sind diskursive Gebilde, die eine wirksame Aura erzeugen und damit nicht in erster Linie kognitive, sondern emotional-affektive Potenziale entfalten.[1] Diese hohe Affektivität findet sich auch insgesamt bei der sogenannten Neuen Rechten und ihrer Vorstellung »des Eigenen«, das nie genauer gefasst wird, sondern immer im Ungefähren bleibt. Die politischen Mythen der Identitären stellen einen ideengeschichtlichen Modernisierungsversuch der extremen Rechten dar. Anders als im neonazistischen Spektrum standen historische Ereignisse wie sie bei den Identitären prägend sind, bei der Neuen Rechten bisher nicht im Fokus. Deren Erinnerungsort war vielmehr die sogenannte Konservative Revolution der Weimarer Republik mit ihren Ideologemen und den Biographien einzelner Autoren[2]. Auch wenn politische Mythen in der Regel Narrtive sind, werden diese nicht zwangsläufig ausbuchstabiert, sondern auch über politische Ikonographie vermittelt. Dies trifft auch auf die IB zu, die insgesamt nur wenige programmatische Texte vorzuweisen hat, sondern ihre Inhalte vor allem über Bildsprache und Parolen vermittelt. Eine der wenigen Ausnahmen ist das von der IBÖ im Jahr 2013 herausgegebene Magazin Identitäre Generation, von dem allerdings anders als geplant nur eine einzige Ausgabe erschienen ist. Im Editorial schreibt Patrick Lenart, der gemeinsam mit Martin Sellner die IBÖ leitet, die erste Ausgabe mit dem Titel »Aufbruch« solle »grundlegende Kenntnisse des identitären Weltbildes vermitteln«. Der enthaltene Aufsatz »Die Neugeburt des Mythos« benennt den Mythos als »irrationalen Kern« der Identitären, weshalb an dieser Stelle etwas detaillierter auf diesen Text eingegangen werden soll. Zunächst werden die zwei Antipoden Mythos und Aufklärung beschrieben. Der Mythos entziehe sich allem Rationalen, der Wissenschaft sowie der »nihilistischen Tendenz der Gleichgültigkeit und Gleichmacherei«. Er sei Basis jeder »ethnokulturellen Identität« und gebe dieser »unauslöschbare Bedeutung« in einer »kosmischen Weltsicht«. Die eigene Scholle reicht hier als Referenz wohl nicht aus, unter der kosmischen Weltsicht macht es der Autor nicht. Weiter: Die französische Revolution, »auf die beispiellose Massaker, darunter der erste gezielte Genozid der Weltgeschichte (…) folgte[n]«, habe den mythischen Teil, »das Irrationale«, die »tiefe Sinnsuche« verbannt und alle Verbindungen zur Vergangenheit gekappt – sie könne als »Todfeind« des Mythos gelten. Die Aufklärung habe durch die Zerstörung des Mythos den Staat dem internationalen Kapitalismus ausgeliefert, der aus den Völkern »Konsumsklaven« mache und jedes »organische Gemeinschaftsgefühl« vernichte. Ein neuer Mythos müsse her, der mit Hilfe seiner mobilisierenden Kräfte das Potenzial entfalten könne, eine neue Ordnung aus dem Alten zu schaffen: »Erst aus dem Mythos und unter Berufung auf ihn kann eine herrschende Ordnung, als widernatürlich und illegitim durchschaut und in einer gesunden Revolte beseitigt werden. Eine Revolte, welche die alte, gerechte Ordnung wiederherstellen und jene stürzen will, die nicht den gemeinsamen Mythos, und damit dem Volk, sondern sich selbst dienen.«
Diese hohe Affektivität findet sich auch insgesamt bei der sogenannten Neuen Rechten und ihrer Vorstellung »des Eigenen«, das nie genauer gefasst wird, sondern immer im Ungefähren bleibt.
Diese Deutung des Mythos geht auf den französischen Autor Georges Sorel[3] zurück. Zentrale Theoreme in dessen kulturpessimistischen Schriften, wonach die »Dekadenz« zu einer Passivität des Bürgertums sowie zur Vernichtung allen Glaubens geführt hätten, finden sich sowohl in der Neuen Rechten als auch bei den Identitären wieder. In seinem 1906 erschienenen Aufsatz »Über die Gewalt« beschrieb Sorel die mobilisierenden Potenziale von sozialen Mythen am Beispiel des Arbeitskampfes streikender Arbeiter. Mythen zielen bei Sorel auf emotionale Willensbildung ab, sie dienen als »Instrumente im politischen Kampf«, die sich aufgrund ihrer Entrücktheit jeglicher Kritik oder Argumentation verwehren.[4] Vernunft und politischer Wille werden als Gegensätze markiert. Begleitet wird der Mythos bei Sorel durch eine »Apologie der Gewalt« und der Opferbereitschaft. Insbesondere im italienischen Faschismus war der Mythenbegriff Sorels prägend. In seiner Rede vor dem Marsch auf Rom 1922 verwies Mussolini, der sich selbst als Anhänger des kurz zuvor verstorbenen Autoren bezeichnete, auf die treibende Kraft des Mythos: »Wir haben einen Mythus geschaffen, der Mythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine Realität zu sein, er ist Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut. Unser Mythus ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen.«
Region, Nation, Europa
Die Identitären greifen den faschistischen Mythosbegriff auf und erweitern ihn entsprechend der neurechten Trias: Im neurechten Denken sind neben der Nation auch die Region, vor allem aber Europa zentrale Bezugsgrößen. Ein neuer europäischer Mythos soll geschaffen werden. Faschismustheoretiker wie Roger Griffin, die den Faschismus in erster Linie aus ideologiekritischer Perspektive analysieren, sehen in dieser Vorstellung einer nationalen Neugeburt (Palingenese) den »mythischen Kern« faschistischer Ideologie. »Dekadenz« und Liberalismus könnten demnach über die radikale Erneuerung der Nation als organisches Ganzes überwunden werden. Die Herausforderung für die Identitären besteht mitunter darin, ihre Narrative an die Rezipierenden anzupassen. Anders als bei nationalen Mythen verlangt die identitäre Trias auch nach lokalen Begründungsmustern. In Berlin wäre mit der Schlacht am Kahlenberg kein Blumentopf zu gewinnen. Zu lokal ist das Ereignis – und zu wenig popkulturell aufbereitet, als dass es, wie die Schlacht bei den Thermopylen, auch über Österreich hinaus eine emotionale Bindungskraft entwickeln könnte. Die Versuche, rund um den 17. Juni mit Demonstrationen in Berlin die Geschichte des Arbeiteraufstandes 1953 in der DDR aufzugreifen und sich als Fürsprecher des »einfachen Volkes« gegen die Herrschenden zu inszenieren, blieben blass. In den gehaltenen Reden wurden kaum historische Bezüge zu 1953 hergestellt. Im März 2017 hielt Sellner bei Pegida in Dresden eine Rede und vermittelte darin ein entsprechend angepasstes identitäres Geschichtsbild, in dem nicht nur aktuelle politische Debatten ihren Platz fanden, sondern auch die ostdeutsche Wendebiografie adressiert wurde: »Identität, das ist das WIR in dem Satz: Wir haben damals Wien vor den Türken verteidigt. Das ist das WIR in dem Satz: Wir wurden damals von Karl Martell gerettet. Und es ist das WIR in dem Satz wenn ihr sagt: Wir haben damals die Wende geschafft, ganz egal wie alt ihr seid. Und wir werden sie wieder schaffen. WIR. Dieses generationenübergreifende WIR, das macht Identität aus.« •
Dieser Artikel ist ein Auszug eines Beitrags für den Sammelband »Identitäre Bewegung Deutschland e.V. – Ideologie, Struktur, Inszenierung«, herausgegeben von Ulrich Peters und Emil Meyer, der im Herbst 2018 im Unrast-Verlag erscheinen wird.
- ↑ Speth, Rudolf: Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000.
- ↑ Zum Begriff des Erinnerungsortes für die extreme Rechte vgl. Martin Langebach, Michael Sturm (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015 sowie den darin enthaltenen Aufsatz von Volker Weiß: »Die konservative Revolution«. Geistiger Erinnerungsort der »Neuen Rechten«.
- ↑ Georges Sorel (1847-1922) publizierte in Frankreich in Anlehnung an Theorien von Marx und Proudhon und wurde u. a. wegen seiner »pessimistischen Anthropologie« (Lenk) zunehmend auch von der politischen Rechten rezipiert. Damit steht Sorel als zentrales Beispiel für das »Mäandern politischer Strömungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts« (ebd.). Verweise auf Sorels Schriften finden sich bei der »Neuen Rechten« immer wieder. So widmete Benedikt Kaiser, Autor der Zeitschrift Sezession, Sorel einen eigenen Artikel. Dessen Vermächtnis liege 1. in der Erkenntnis des Mythosbegriffes als Mobilisierungsfaktor, 2. im Prinzip der Unversöhnlichkeit und 3. in der Vermeidung reformistischer Bürgerlichkeit. Für Kaiser sind diese Faktoren heute aktueller denn je. Vgl. Benedikt Kaiser: Georges Sorel – Sozialer Mythos und Gewalt, in: Sezession Nr. 76, Februar 2017.
- ↑ Lenk, Kurt; Meuter, Günter; Ricardo Otten, Henrique: Vordenker der Neuen Rechten, Frankfurt/ New York 1997, S. 35.