Mit offenen Armen in die Sackgasse
Der christlich-fundamentalistische Marsch für das Leben zog auch 2018 durch Berlin. Deutlich wurde, dass die größte Veranstaltung der »Lebensschutz«-Bewegung in der Krise steckt – personell und inhaltlich fehlen Impulse und die Zahl der Teilnehmenden nimmt ab. Das sollte aber die Kritik an ihr nicht verflachen.
Von Ulli Jentsch und Eike Sanders
Nach unseren Zählungen nahmen in diesem Jahr rund 3.500 Menschen am »Marsch für das Leben« teil und damit ebenso wenige wie 2017. Im Vorjahr hatten die Veranstalter*innen vom Bundesverband Lebensrecht (BVL) eine Zahl von 7.500 angegeben, dieses Jahr mussten auch sie zugeben, dass sie weniger als in den Vorjahren waren und gaben vor Ort 5.500 Teilnehmende an. Dies wäre also auch bei den fragwürdigen Zahlen des BVL eine Abnahme um fast ein Drittel.
Die Anreise vieler Teilnehmenden in diesem Jahr wurde mit etwa 22 Bussen von den bekannten »Lebensschutz«-Organisationen wie KALEB, Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Christdemokraten für das Leben (CDL) oder aus den jeweiligen Gemeinden und Diözesen heraus organisiert. 2016 waren es noch 39 organisierte Busse gewesen. Der Schwund war also zu erwarten und ist auch mit der die kirchlichen Gemeinden spaltenden Frage »Wie hältst du es mit der AfD?« zu begründen, die – neben der Überbetonung der (vermeintlich gewaltvollen Gegenproteste – in Zeiten von Pegida und Chemnitz demobilisierend wirkt.[1]
Tatsächlich haben dieses Jahr die queer-feministischen Gegenproteste zusammen mit Reclaim Club Culture schon am Vorabend rund eintausend Teilnehmer*innen trotz Regen auf die Straße gebracht und demonstrierten auch am Samstag mit mehreren hundert Menschen an verschiedenen Punkten gegen die Abtreibungsgegner*innen. Darunter auch mit einer kleinen Blockade, an der der Marsch jedoch vorbei geführt werden konnte, einem Chor, der unter dem Motto »Singen für das Leben« die Abtreibungsgegner*innen, die Linke nur als »hasserfüllte« Fratzen sehen wollen, sichtlich irritierte. Die vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung veranstaltete Demonstration konnte 1.500 Menschen mobilisieren, die sich später den Blockadeversuchen anschlossen.
Relativierungen
Personell und strategisch ist die »Lebensschutz«-Bewegung in die Defensive geraten. Während sie noch 2016 offensiv den »Kulturkampf« ausrief, wurden dieses Jahr die akuten Themen wie ihr Kampf für die Beibehaltung des § 219a und die Ablehnung des Praena-Tests nur en passant gestreift. Geradezu beschwichtigend wirkte vor allem die Rede der CDL-Vorsitzenden Mechthild Löhr: »Oft sieht es so aus, als ob, und das sagen ja auch unsere Kritiker hier bei den Gegendemonstrationen, unsere Bekenntnis zum Leben des Kindes ein Anschlag auf die Rechte der Frau ist. Nein! Wir kennen zwei Lebensrechte: Das ist das Leben und das Freiheitsrecht der Frau, und wir kennen das Lebensrecht und das Recht des Kindes zu leben. Und beide Rechte sind für uns gleichwertig und wir akzeptieren nicht, dass so getan wird als ob ein Kind lediglich ein Produkt ist, das man in den Klinikmüll geben kann, wenn man es nicht will. Und darüber wollen wir aufklären, was jede Frau dann entscheidet ist ihre Sache. Die Gesetzeslage in Deutschland ist eigentlich so, dass wir auch keine Strafverschärfung brauchen, sondern was wir brauchen ist eine bessere Aufklärungspolitik, bessere Hilfe, um viel mehr Kinder zu retten.« Der Applaus war nur verhalten, wird aus den sonstigen Publikationen der »Lebensschutz«-Bewegung doch sehr deutlich, dass sie sich eigentlich ein Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen wünschen.
»Zeugnisse«
Neben den gesagten Relativierungen zeigten die Reden eine Rückbesinnung auf den bewährten Mix aus Betroffenheitsberichten und einer – angesichts des traditionell hohen Anteils älterer Männer und Frauen doch leicht bemüht wirkenden – Inszenierung der eigenen Jugendlichkeit. Zunächst berichtete, moderiert von der BVL-Vorsitzenden Alexandra Maria Linder und dem Generalsekretär der evangelikalen Deutschen Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb, die für die ALfA tätige Referentin und Beraterin Sandra Sinder aus Düsseldorf von ihrer Arbeit. Danach erzählte die Küsterin Elisabeth Rugaju aus Köln beziehungsweise Uganda über ihre Entscheidung, auch das dritte Kind zu bekommen, schließlich standen ein Pianist aus Israel und dessen Frau auf der Bühne um »Zeugnis abzulegen«: Seine Mutter war erst 16, als sie ihn bekam und seine vorherige Freundin trieb ohne sein Wissen ab. Hier inszenierte sich ein Mann als Betroffener von Abtreibungen, was in den aus den USA schwappenden Diskurs von der kollektiven Traumatisierung durch Abtreibungen und den auch hier verbreiteten Väterrechtsdiskurs passt.
»Jugend«
Der zweite Fokus lag auf der genannten Inszenierung der Jugend als neue Pro-Life Generation. Cornelia Kaminski (CDU Hessen, CDL und ALfA) hat es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht, die Jugend zu agitieren und international zu vernetzen. Linder, Kaminski und Steeb holten zwischenzeitlich sechs Jugendliche auf die Bühne, darunter Fabiola Kaminski von der Jugend für das Leben, die von ihrer Arbeit an den Schulen berichtete. Es redete auch Bethany Janzen, regionale Koordinatorin der Students for Life of America, die nach eigenen Aussagen der österreichischen Jugend für das Leben helfen will, die »pro-life generation in Europe« aufzubauen.[2] Janzen zog eine Linie von der Bürgerrechtsbewegung für die Abschaffung der Sklaverei zur Schaffung einer Kultur der »equality«, in der sowohl die Hautfarbe als auch das Alter (womit das Alter ab der Zeugung, nicht der Geburt gemeint ist) nichts bedeuten. Cornelia Kaminski übersetzte dabei die Aussagen erstaunlich selektiv, verkürzt und verfremdend, so dass aus »equality« bei ihr »Qualifikation« wurde.
Die rahmenden Auftritte der einigermaßen bekannten Christenrockband Koenige&Priester war denn offensichtlich auch für viele Jugendliche der Höhepunkt des Tages. Koenige&Priester, deren Sängerin Florence Joy 2004 die Castingshow »StarSearch« gewann und deren Sänger und Gitarristen, die Brüder Thomas und Jonathan Enns, Finalisten der vierten Staffel von Deutschland sucht den Superstar waren, sorgten durch ihre bei überkonfessionellen Jugendgottesdiensten erprobte Performance für Ekstase bei den jüngeren und vor allem während des Gottesdienstes für verkniffene Gesichter bei den älteren Generationen.
Abschlussgottesdienst
Erstmalig predigte, neben dem Berliner Weihbischof Matthias Heinrich, ein evangelischer Bischof auf dem Abschlussgottesdienst: der Greifswalder Hans-Jürgen Abromeit stellte die ungewollte Schwangerschaft als »eine Nagelprobe auf die Solidarität der Gesellschaft« dar. Man müsse, so Abromeit, nur genügend füreinander einstehen, die »schwangeren Frauen ermutigen«, damit sie »ihre Kinder« annähmen. Niemand wolle, so der Bischof der Nordkirche, »einer jungen Frau ihr Leben kaputt machen.« Es gehe »überhaupt nicht um irgend eine Art von Zwang, was offensichtlich manche überhaupt nicht verstanden haben.« In der heilen Welt dieses Kirchenmannes kommt moralischer Druck, gerade von der Kirche und der »Lebensschutz«-Bewegung gerne als »Gewissensentscheidung« individualisiert, offenbar so wenig vor wie die freie Entscheidung gegen ein Austragen der Schwangerschaft.
Finde die AfD
Die derzeitige gesellschaftliche Präsenz feministischer Kämpfe wie die Forderung nach der Abschaffung des »Werbeverbot« genannten § 219a, der festgestellte Mangel an Abtreibungen vornehmenden Ärzt*innen und der Aufschwung einer sich radikalisierenden AfD hatten im Verlauf des Jahres eine kritische Auseinandersetzung mit der »Lebensschutz«-Bewegung in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Viele antizipierten eine steigende Präsenz von AfD-Prominenz. Doch offensichtlich war es selbst für Beatrix von Storch wichtiger, eine Veranstaltung in Weitnau (Allgäu) durchzführen, Martin Hohmann (MdB) war zwar anwesend, doch bekannte Gesichter fehlten in den vorderen Reiehen des Marsches. Nichtsdestotrotz sahen die Christen in der AfD sowohl vorab als auch in den Berichten danach den Marsch ungebrochen oder gar verstärkt als als Identifikations- und Agitationsfeld.
Alexandra Linder hatte im Vorfeld betont, es sei das demokratische Recht Aller am »Marsch für das Leben« teilzunehmen, »aus Kirchen oder Parteien, welcher Couleur auch immer«. Niemand aus dem Organisator*innen-Team machte Anstalten, sich dem Problem der Anwesenheit von Ralf Löhnert, der nicht nur auf »Lebensschutz«-Märschen sondern auch auf neonazistischen Rudolf-Heß-Gedenkdemonstrationen anzutreffen ist, anzunehmen, auch in der Nachberichterstattung wird es von Seiten der Bewegung beschwiegen. Doch ein Blick über die Landesgrenzen verdeutlicht, wie fragil eine Einladungspolitik ist, die sich nicht zwischen offenen Armen für alle und Abgrenzung nach Rechtsaußen entscheiden mag. In der Schweiz sorgte Anfang September die Mitteilung der extrem rechten »Partei national orientierter Schweizer« (PNOS), an dem »Marsch fürs Läbe« am 15. September in Bern teilnehmen zu wollen, für Aufsehen. Die Kleinpartei, ideologisch mit der deutschen NPD vergleichbar, zu der sie auch enge Kontakte pflegt, benutzte für die Mobilisierung der eigenen Klientel die Flugblätter und Plakate der »Lebensschützer«. Noch am 8. September sah die Medienverantwortliche des Marsches, Beatrice Gall, keinen Anlass, sich von der rassistischen Partei zu distanzieren. Wer friedlich sei, könne teilnehmen, sagte sie der Tageszeitung Der Bund. Zwei Tage später veröffentlichte Daniel Regli, der Präsident des Organisationskomitees des »Marsches fürs Läbe«, einen offenen Brief an die PNOS, in dem er der Partei vorwarf, sich die Materialien unter Angabe falscher Tatsachen beschafft zu haben. Personen, die durch PNOS-Kennzeichen zu erkennen seien, würde der Zugang zum Bundesplatz verweigert. Privatpersonen, die sich über die Thematik informieren wollten, könnten aber teilnehmen. Der Regierungsratskandidat der PNOS, Yannic Nuoffer, nahm diese Einladung an – er hatte nach eigenen Angaben keine Probleme, an der Veranstaltung teilzunehmen.
Es braucht inhaltliche Kritik
Eine solche Aufmerksamkeit von der extremen Rechten bekam der Berliner Vorzeigemarsch bisher nicht. Zwar liefen in den vergangenen Jahren Mitglieder von CDU und AfD nebeneinander an der Spitze des Marsches, dominiert haben letztere ihn jedoch nicht. Solange der BVL es schafft durchzusetzen, dass fast ausschließlich die Einheitsplakate und -Schilder gezeigt werden dürfen, wird die Präsenz extrem rechter Personen nur für Journalist*innen und Rechercheur*innen sichtbar sein und kann vom BVL und den Teilnehmenden ignoriert werden.[3] Für die emanzipatorische Gegenseite hingegen gilt es, in Erinnerung zu behalten, warum man die »Lebensschutz«-Bewegung politisch bekämpfen muss: Die »Lebensschutz«-Bewegung vertritt reaktionäre, christlich-fundamentalistische Positionen und ein Weltbild, das feministische und queer-politische Errungenschaften akut bedroht. Nicht die Präsenz einzelner AfD-Politiker*innen ist das Problem, sondern die Agenda der Bewegung an sich.
- ↑ Vgl. auch Linder auf www.die-tagespost.de am 24.09.2018 und Eike Sanders: „Wie Essig und Öl“ vom 18.07.2016 auf www.apabiz.de
- ↑ https://twitter.com/BethanyJanzen am 3. Juni 2018: „Can’t wait to help raise up the pro-life generation in Europe with @jfdl_at! #prolifegen“
- ↑ Vgl. das Video des JFDA e.V., in dem Alexandra Linder die homo*feindlichen Positionen von pro conscientia e.V., Mitglied im BVL als „nicht unsere Baustelle“ bezeichnet. https://jfda.de/blog/2018/09/22/proteste-gegen-den-marsch-fuer-das-leben/, insbesondere ab 0:23