Die Dynamik von Chemnitz durchbrechen
Die sächsische Stadt Chemnitz war in den vergangenen Tagen Schauplatz einer bedrohlichen rassistischen Mobilisierung, die sich innerhalb kürzester Zeit zugespitzt hat.
von apabiz
Anlass war der entsetzliche, gewaltsame Tod eines 35-jährigen Mannes, der am Rande des Chemnitzer Stadtfestes durch mehrere Messerstiche tödlich verletzt wurde. Wir möchten der Familie und den Freund*innen des Toten unser Beileid aussprechen. Der von ihnen formulierte Wunsch, dass sich »Trauer nicht in Wut und Hass umwandeln« solle, hat sich insofern nicht erfüllt, als dass der Tod von Daniel H. nicht betrauert sondern – entgegen aller Informationen über ihn als Person – von Rechten instrumentalisiert wurde.
Bereits am Sonntag, noch bevor verlässliche Details der Tatumstände bekannt waren, riefen sowohl die Alternative für Deutschland (AfD) als auch eine lokale Ultra-Fangruppe zu »Protesten« auf. Etwa 800 Personen folgten dem Aufruf der Fangruppe. Der gewaltbereite und rassistische Mob forderte dazu auf, sich »die Stadt zurück zu erobern«, mehrfach griffen Gruppen Einzelpersonen an, die sie als Migrant*innen oder Flüchtlinge identifizierten.
Dem folgte am Montag eine überregionale Mobilisierung durch »Pro Chemnitz«, mehr als 6000 Personen trafen sich am zentralen Platz unter dem Karl-Marx-Denkmal. Die Stimmung war aggressiv, der folgende Demozug skandierte neonazistische Parolen wie »Hier marschiert der Nationale Widerstand« und »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!«. Die Polizei war nicht in der Lage und Willens, Hitlergrüße, Morddrohungen gegen Journalist*innen und Angriffe auf die Gegenkundgebung zu unterbinden. Die gespenstischen Bilder vom Montag zeigen einen gewaltbereiten, hasserfüllten Mob von Nazis und bürgerlichen Rassist*innen, denen jegliche Trauer und Anteilnahme für den Verstorbenen gleichgültig ist. Am Montag bewiesen sie, dass in Chemnitz alle potentiellen Opfer der Nazis um Leib und Leben fürchten müssen: Das betrifft Geflüchtete und People of Colour ebenso wie Wohnungslose, weiße Linke, LGBTIQ* und zivilgesellschaftliche Akteure wie z.B. Gewerkschaften.
Den Flächenbrand stoppen bevor er entsteht
Die kommenden Tage und Wochen werden entscheiden, ob und wie wir diese gefährliche Dynamik durchbrechen können. Die bisherigen Ereignisse haben gezeigt, dass alle extrem rechten, rassistischen und neonazistischen Szenen vor Ort jenseits aller Widersprüche zu einer öffentlichen Machtprobe bereit sind. Diese Durchlässigkeit zwischen den Milieus und auch die Mobilisierbarkeit mehrerer Generationen von Aktivist*innen der extremen Rechten in kürzester Zeit ist ein wesentlicher Grund der jetzigen Entwicklung auf der Straße und entspricht dem Stand antifaschistischer Recherchen vor Ort.
Es ist wichtig, am kommenden Samstag, aber auch darüber hinaus, antirassistische, antifaschistische und von Nazis gefährdete Menschen in Chemnitz mit aller Kraft zu unterstützen.
Hinzu kommt das Verhalten von Politik, Behörden und insbesondere der Polizei, die diese Entwicklung jahrelang heruntergespielt und geleugnet haben. Die nach offener Gewaltanwendung schreienden Gruppen wurden zu lange als »besorgte Bürger« verharmlost. Der von ihnen im Zusammenspiel mit gewalttätigen Neonazis ausgehenden Gefahr insbesondere für Geflüchtete, aber auch für alle als »Volksverräter« markierte Menschen, wird nicht oder nur widerwillig begegnet. Dies nehmen wir angesichts der jetzigen Ausschreitungen als Komplizenschaft wahr. Die Diskreditierung der Gegenproteste als »Links-Rechts-Auseinandersetzung« verhindert eine notwendige Solidarisierung der Gesamtgesellschaft mit allen tatsächlich und potentiell betroffenen Menschen. Diese Situation birgt die akute Gefahr eines Flächenbrandes rassistischer und neonazistischer Gewalt.
Es ist wichtig, am kommenden Samstag, aber auch darüber hinaus, antirassistische, antifaschistische und von Nazis gefährdete Menschen in Chemnitz mit aller Kraft zu unterstützen. Wir können dies vor Ort tun oder auch anderswo. Wir finden es nicht wesentlich, welchem Gegenprotest oder welchem Aufruf wir dabei folgen, so lange dies dazu führt, dass diejenigen gestärkt und geschützt werden, die im Visier der Nazis und Rassist*innen stehen. Ob Kundgebung, Blockade, Demonstration oder Konzerte: Alles, was der rassistischen Dynamik etwas entgegensetzt, diese blockiert und den Schutz und die Sicherheit der potentiellen Opfer erhöht, ist wichtig.
Solange selbstbewusste Nazis im ganzen Land an der Seite von neurechten Scharfmacher*innen und AfD-Wähler*innen auf der Straße stehen und der Staat nicht nur zurückweicht, sondern in Teilen auch Sympathie mit deren Zielen zeigt, drohen auch in Zukunft und an anderen Orten pogromartige Ausschreitungen.
Wir erwarten, dass Druck auf die Behörden auf Landes- und Bundesebene ausgeübt wird, um die Unversehrtheit der angegriffenen Menschen zu gewährleisten. Den angekündigten Hassverbrechen darf nicht sprach- und tatenlos zugesehen werden.
Zeigen wir den bedrohten Menschen, den Antifaschist*innen und Antirassist*innen in Chemnitz, dass wir auf ihrer Seite stehen. Fahrt nach Chemnitz, mobilisiert bei euch vor Ort, fragt nach, was fehlt. Seien wir solidarisch.