Generationsübergreifende Wissensweitergabe
Rezension: Christin Jänicke, Benjamin Paul-Siewert (Hrsg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland – Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung
In der Nacht vom 5. auf den 6.November 1987 zogen Aktivist_innen der Antifa Potsdam durch die Stadt, um mit Flugblättern auf das Neonaziproblem in der DDR aufmerksam zu machen. Zu dieser Zeit noch unbekannt: Einer der Mitstreiter berichtete regelmäßig als »inoffizieller Mitarbeiter« der Stasi über die Aktivitäten der Gruppe. Die Staatsführung sah das Narrativ vom »ersten antifaschistischen Staat auf deutschem Boden« gefährdet und machte in den aufkommenden unabhängigen Antifa-Gruppen keine Verbündeten, sondern »feindlich-negative« Subjekte aus, Nestbeschmutzer_innen also.
Auch in anderen Städten der DDR gründeten sich Ende der achtziger Jahre unabhängige Antifa-Gruppen. Dem vorausgegangen war 1987 ein Neonazi-Angriff auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche. Danach wurde erstmals öffentlich in der DDR über die Existenz von FaschistInnen gesprochen. Zuvor war rechte Gewalt entweder vertuscht oder als Rowdytum entpolitisiert worden. Anders als der zum Ritual verkommene staatliche Antifaschismus, forderten die Aktivist_innen eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie und machten das Nicht-Handeln von Behörden öffentlich.
Im anfänglichen Machtvakuum, das auf den Zusammenschluss der zwei deutschen Staaten folgte, konnten linke Freiräume erkämpft werden. Diese boten Platz für Träume und Utopien. Die Aufbruchphase währte jedoch nur kurz. In den neunziger Jahren galt es mehr denn je sich der mörderischen Nazigewalt entgegenzustellen. Der besonderen Situation ostdeutscher Antifas geht der im Mai erschienene, von Christin Jänicke und Benjamin Paul-Siewert herausgegebene Sammelband »30 Jahre Antifa in Ostdeutschland – Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung« nach.
Viel wurde zuletzt geschrieben über die Geschichte der (autonomen) antifaschistischen Bewegung in Deutschland. Dabei konnte vor allem für jüngere Leser_innen der Eindruck entstehen, Antifa sei auf westdeutsche Städte wie Hamburg oder Göttingen beschränkt. Organisierungsansätze wie die Antifaschistische Aktion – Bundesweite Organisation (AA/BO) sind vergleichsweise gut aufgearbeitet und im kollektiven Wissen der Bewegung verankert. Wer hat jedoch von den zeitgleich stattfindenden »Ost-Vernetzungstreffen« oder den Anfängen unabhängiger Antifa-Gruppen in den letzten Jahren der DDR gehört? Die Erfahrungen und Perspektiven ostdeutscher Antifas, die sich zwangsläufig auf andere alltagsweltliche und gesellschaftspolitische Kontexte beziehen, wurden bislang allenfalls am Rande behandelt. Debatten der westdeutschen Linken mit ihren Spaltungslinien verschiedener K-Gruppen, teilweise sogar mit positivem Bezug auf den Realsozialismus, hatten wenig gemein mit der im Osten neu entstehenden Bewegung.
Anstatt einer Aneinanderreihung von Ereignisgeschichte legt der Band dankenswerterweise den Fokus auf verschiedene Aktionsfelder antifaschistischer Politik. Die Themen reichen von militanten Anti-Nazi-Aktionen, über Erinnerungs- und Bildungsarbeit bis hin zur noch immer zu selten geführten Auseinandersetzung mit antisexistischen Positionen innerhalb meist männlich* dominierter Politzusammenhänge. Die Beiträge zeichnen ein differenziertes Bild der Bewegung, inklusive ihrer Konflikte und Schwachstellen. Besonders lesenswert sind die Stellen, an denen Aktivist_innen selbst zu Wort kommen. Diese machen immer wieder
deutlich: Antifaschist_in zu sein war eine schlichte Notwendigkeit.
Das Buch schafft den Spagat zwischen wissenschaftlicher Analyse und Selbstreflexion beteiligter Aktivist_innen. Anhand von kaum bekanntem Archivmaterial, zu dem auch das apabiz einen Teil beitragen konnte, werden Anfänge und Entwicklung der ostdeutschen Antifa-Bewegung nachgezeichnet. Die Auswertung von Stasi-Unterlagen macht deutlich, welcher Überwachung und Repression die Aktivist_innen in den letzten Jahren der DDR ausgesetzt waren. Der oftmals wenig schmeichelhafte Blick westdeutscher Antifas auf die neu entstandenen Gruppen im Osten wird anhand von Protokollen der AA/BO dargestellt.
Der Band ist ein Plädoyer dafür, der Geschichte der eigenen Bewegung mehr Aufmerksamkeit zu schenken und eine generationsübergreifende Wissensweitergabe zu ermöglichen. Einige Regionen wie Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern finden bislang allerdings noch zu wenig Beachtung. Der Anfang ist gemacht, ein zweiter Band wünschenswert.
Kilian Behrens
Christin Jänicke, Benjamin Paul-Siewert (Hrsg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland – Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2017. 208 Seiten, 20 €.