Christlicher Demotourismus nach Sodom und Gomorra
Die »Lebensschutz«-Bewegung marschiert durch Berlin
»’Berlin, Hauptstadt des Tötens‘ ist kein Ehrentitel!« echauffierte sich Martin Lohmann, Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht, bei seiner Rede am 17. September 2016 auf dem Marsch für das Leben in Berlin.
Im Vorfeld des Marsches der AbtreibungsgegnerInnen hatte der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich ebenso wie viele andere Politiker*innen und die Evangelische Landeskirche von dem Marsch distanziert. Einige unterstützten explizit die Gegenproteste. Lohmanns Antwort war ein ungewohnt scharfer Angriff auf die Landespolitik: »Wer dieses Recht auf Leben nicht will, der ist totalitär. Demokraten werden das nicht wollen. Mir ist unverständlich, wie ein regierender Bürgermeister etwas Antidemokratisches unterstützen kann. […] Ein Berlin, das diese Botschaft nicht erträgt ist keine weltoffene Stadt.« So werden durch den BVL-Vorsitzenden einfach all jene als undemokratisch oder totalitär gekennzeichnet, die nicht mit der fundamentalchristlichen Definition von »Leben« übereinstimmen.
Das diesjährige Personal
Zu dem größten jährlichen Event der »Lebensschutz«-Bewegung waren auch in diesem Jahr wieder ChristInnen aus ganz Deutschland, Europa und den USA angereist, die mit den einheitlichen Pappschildern des BVL und 1000 weißen Kreuzen in Gedenken für das »getötete ungeborene Leben« schweigend und teilweise betend durch die Hauptstadt liefen. Mit knapp 40 Bussen, die von regionalen Lebensschutz-Organisationen wie dem Regionalverband Memmingen der Aktion Lebensrecht für Alle (AlfA), der Jugend für das Leben oder KALEB Sebnitz organisiert waren, kamen Großfamilien, ältere Hetero-Ehepaare, ganze Gemeinden und christliche Jugendgruppen nach Berlin, teilweise als »Wallfahrt« oder »Pilgerfahrt« deklariert. Der Marsch für das Leben in Berlin gehört für diese Menschen, die sonst eher nicht für ihre politischen Überzeugungen auf die Straße gehen, seit einigen Jahren in ihren Terminkalender. Konfrontiert mit provokant sexpositiven feministischen und queeren Gegenprotesten mag dieses bunte atheistische Berlin den christlichen DemotouristInnen wie der verlorene Sündenpfuhl vorkommen. In ihren Berichten betonen sie, dass sie trotzdem für die verblendeten Gegner*innen beten werden.
Zahlenjonglage der »Lebensschützer«
Bis zu 5.000 Teilnehmende waren es in diesem Jahr nach mehrmaligen Zählungen durch das apabiz. 6.000 Teilnehmende verkündete die Polizei, 7.500 wollen die »Lebensschützer« selbst gewesen sein. Bei diesen Zahlen werfen sich zwei Problematiken auf: Der Anteil Minderjähriger ist bei dieser Demonstration immens hoch, deswegen haben wir beschlossen, Kinder, die offensichtlich unter 16 Jahre alt sind, nicht mitzuzählen – gemeinsam reisende Jugendgruppen aber schon. Diese Unterscheidung machen weder die Veranstalter noch die Polizei. Offensichtlich ist auch, dass der BVL zwanghaft bemüht ist, die Bewegung als dynamisch und stetig wachsend darzustellen. Es müssen 2016 einfach wieder mehr als im Vorjahr gewesen sein, und wenn die Realität etwas verbogen werden muss und genaue valide Zahlen ohnehin schwer zu erfassen sind.
Auch die Dringlichkeit ihres Anliegens versuchen die »Lebensschützer« mit Zahlenpropaganda zu verdeutlichen: Die Abtreibungszahlen würden steigen, aber niemand nehme das wahr[1]. Richtig ist: Das Statistische Bundesamt konnte im 2. Quartal 2016 einen Anstieg zum Vorjahreszeitraum um 1,9% feststellen. Im 1. Quartal sank der Anteil im Vergleich allerdings um 0,3% – doch weder werden diese Vergleichszahlen genannt, noch überhaupt die (Prozent-)Zahl der Steigerung, wichtig ist die skandalisierende Botschaft. Der BVL ignoriert einfach den allgemeinen Trend, nämlich dass die absoluten Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche von minimalen jährlichen Schwankungen seit 2001 stetig gesunken sind: Von 134.964 auf 99.237 (2015).
Es fällt auf, dass die »Lebensschutz«-Bewegung ihre Rhetorik geändert hat: Jetzt wird nicht mehr von den (völlig übertriebenen) 1.000 Abtreibungen pro Werktag gesprochen, auch wenn die Kreuze immer noch dafür stehen, sondern Lohmann spricht jetzt von »15 Schulklassen pro Werktag«. Je nach Rechengrundlage ist die dahinter stehende Zahl realistischer[2], jedoch verschleiert das Bild die tatsächliche Zahl noch mehr und verstärkt zudem die Gleichsetzung von Föten mit geborenen Menschen.
Themensetzung Pränataldiagnostik, Ärzte als Zielgruppe
Wie schon im Motto »Kein Kind ist unzumutbar« zu erkennen, stand das Thema Pränataldiagnostik (PND) und der sogenannte PränaTest zur Früherkennung von Trisomie gleich in mehreren Redebeiträgen sowie in einer vor Ort beschlossenen Resolution[3] deutlich im Mittelpunkt. Derzeit wird auf politischer Ebene geprüft, ob solche Bluttests zukünftig als Kassenleistung übernommen werden. Der BVL lehnt solche Tests mit Hinweis auf eine mögliche steigende Abtreibungswahrscheinlichkeit ab. Auch andere Verbände, auch von Betroffenen, hatten zuvor bereits die möglichen selektiven Wirkungen kritisiert.
Gleich zwei Ärztevertreter, Holm Schneider (Aktion Lebensrecht für Alle (AlfA)) und Paul Cullen (Vorsitzender der Ärzte für das Leben (ÄfdL)), beschworen die Gefahren der eugenischen Maßnahmen. Die ÄfdL, erst seit 2015 Mitglied im BVL, war auf dem diesjährigen Marsch mit einer Delegation anwesend. Damit bestätigt der BVL auch den Eindruck, dass Ärzt*innen und Medizinstudent*innen vermehrt zur Zielgruppe der »Lebensschutz«-Propaganda werden dürften. Denn Wunsch der »Lebensschutz«-Bewegung ist es, durch den moralischen Druck auf diese Berufsgruppen die faktischen Möglichkeiten für Abtreibungen einzuschränken, selbst wenn es nicht zu einem gesetzlichen Verbot kommt, wie es in Ländern wie Italien oder den USA schon traurige Realität ist.
Es blieb Alexandra Linder, Bundesvorsitzende der AlfA, überlassen, nochmal deutlich den bisherigen gesellschaftlichen Kompromiss aufzukündigen. Linder nannte den 218 einen »verschwurbelt formulierten« Paragrafen und der Staat sei mit diesem Konzept gescheitert. Und schließlich stehe im §219 nicht drin, »Abtreibung sei ein Frauenrecht«. Lohmann sekundierte mit dem Vorwurf: »Wo ist eigentlich der Bundestag, der verpflichtet ist vom Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten, zu überprüfen, ob die Neuregelung, die damals in den 90er Jahren eingesetzt wurde, wirklich mehr Leben schützt? Wo sind die Abgeordneten, die das fordern?«
»Nun sag, wie hast du’s mit der AfD?«
Im Vorfeld des Marsches waren die Überschneidungen der »Lebensschutz«-Bewegung zur AfD öffentlich thematisiert worden. Vor allem die Teilnahme von Beatrix von Storch wurde aufmerksam registriert. Die offensive Einbindung von Parteien hatte Lohmann seit jeher vermieden und zum Auftakt des Marsches sah er sich gezwungen, nochmal auf die Unabhängigkeit des BVL und der Veranstaltung hin zu weisen: »Der Lebensschutz ist überparteilich und eigentlich ganz, ganz normal. Dieser Marsch ist keine Parteiveranstaltung. Wir bleiben unabhängig und parteipolitisch neutral. Wer anderes behauptet, sagt Unwahres. Und hier laufen alle nur unter einem Banner, unter dem Banner des Bundesverbandes Lebensrecht, BvL.«
Die Proteste und der Druck im Vorfeld haben bei den ChristInnen eine innere Abgrenzung provoziert, die vielen nicht schmecken dürfte. Lohmann vermied auch auffällig verbale Analogien wie den im letzten Jahr noch sehr präsenten Slogan »Willkommenskultur auch für Ungeborene«, den inzwischen die AfD in ihrem Grundsatzprogramm festgeschrieben hat. Ebenso wie Beatrix von Storch zeigte die Bundessprecherin der Christen in der AfD (ChrAfD), Anette Schultner, Präsenz. Ansonsten waren als Personalien die Anwesenheit des hessischen AfD-Funktionärs Martin Hohmann (ex-CDU, Kreistagsabgeordneter in Fulda) sowie der Berliner CDU-Frau Vera Lengsfeld bemerkenswert. Die von Lohmann betonte Überparteilichkeit ist nicht mit Parteiunabhängigkeit zu verwechseln: Selbstverständlich spielen die Christdemokraten mit der CDL eine dominante Rolle und es dürfte interessant sein zu erfahren, was passiert, wenn die ChrAfD, die ja das Thema »Lebensrecht« innerhalb der AfD repräsentiert, eine Mitgliedschaft im BVL beantragt.
Nicht unwidersprochen!
Die inszenierte Parteiferne, die drängende Frage zu einer Positionierung zur »Willkommenskultur« und das präsente Bekenntnis zum christlichen Glauben beschneiden das Mobilisierungspotenzial der »Lebensschutz«-Bewegung in der heutigen Zeit. Gleichzeitig haben »Demo für alle«, AfD und die Neue Rechte, allen voran aber konservative Mainstream-Medien und Talkshows, das sich ausweitende antifeministische und homo- und transfeindliche Feld bereitet, auf dem auch der BVL Früchte ernten möchte. Rechtskonservative Vorstöße, gerade in bioethischen oder familienpolitischen Fragen auch rechtliche Pflöcke einzuschlagen, können erfolgreich sein, wenn weiter extrem rechte Positionen die CDU vor sich her treiben und emanzipative, feministische Positionen und Gegenproteste marginalisiert bleiben oder als illegitim und antidemokratisch kriminalisiert werden, wie es der BVL betreibt.
So war dieses Jahr die Polizei auch auffällig darauf aus, »Lebensschützer« und GegendemonstrantInnen von einander zu trennen. Für die ChristInnen hieß das, die vorher erstmalig geheimgehaltene Route offensichtlich spontan umlenken zu müssen – statt publikumswirksam Unter den Linden und durch das Brandenburger Tor zu ziehen, mussten sie durch enge leere Seitenstraßen hinter dem Hauptbahnhof laufen. Die GegendemonstrantInnen kamen dennoch fast durchgängig auf Hör- und oft auch auf Sichtweite an den Marsch für das Leben. Eine Blockade der Strecke der ChristInnen wurde allerdings von der Polizei unter Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken unterbunden. Dennoch sind diese Gegenproteste überaus wichtig: Den »LebenschützerInnen« unwidersprochen die Straße zu überlassen, ist keine Option, so lange sie sich heraus nehmen, aus ihren Gemeinden anzureisen, um ihren rückwärtsgewandten Lebensentwurf anderen Menschen moralisch oder gar gesetzlich aufzudrücken.
Ulli Jentsch und Eike Sanders