Ungläubiges Staunen
Heftige Proteste gegen den zehnten Marsch für das Leben in Berlin
Am 20. September 2014 fand in Berlin der inzwischen zehnte Marsch für das Leben statt. Die etwa 5.000 Teilnehmenden bei der zentralen Veranstaltung der deutschen »Lebensschutz«-Bewegung sahen sich verstärkten Protesten gegenüber. Die Auseinandersetzungen um den §218 und bioethische Fragen haben sich damit deutlich zugespitzt.
vonUlli Jentsch und Eike Sanders
Martin Lohmann, der Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) und alljährlich Leiter des Marsches, kann auch 2014 einen Zuwachs an Teilnehmenden vermelden. Doch »die große Ja-Bewegung in Deutschland« sah sich so deutlichen Protesten gegenüber wie noch nie. Neben dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, das am Brandenburger Tor demonstrierte, gab es in diesem Jahr erstmals eine Gegendemo durch das Bündnis what the fuck mit anschließenden Störungen des Marsches und Blockadeversuchen. Insgesamt wurden 1.000-1.500 Gegendemonstrierende gezählt.
Das Spektrum der »Lebensschützer« wird zu einem nicht unerheblichen Teil aus Mitgliedern der rund 60 expliziten »Lebensschutz«-Organisationen in Deutschland bestanden haben, daneben waren aber auch Gruppen aus Polen und Spanien angereist sowie diverse Geistliche. Martin Lohmann begrüßte explizit Beatrix von Storch, Europa-Abgeordnete der Alternative für Deutschland. Auch der wegen antisemitischer Äußerungen aus der Partei ausgeschlossene ehemalige CDUler Martin Hohmann und der Pro Deutschland-Vorsitzende Manfred Rouhs wurden gesichtet.
Gegen staatliche Sexualaufklärung, PID, PND und Sterbehilfe
Mit Hedwig von Beverfoerde (Sprecherin der Initiative Familienschutz der Zivilen Koalition) und Elisabeth Luge waren auch RednerInnen da, die das Thema »Abtreibung« mit Sexualaufklärung und dem angeblichen Zerfall der Familie verknüpften. Beverfoerde beklagte eine vermeintliche »Sexual- – ja, wie soll ich sagen, Erziehung oder auch Dis-/ Desorientierung […], die wirklich zum Himmel schreit«. Elisabeth Luge, Germanistin, Mutter von vier Kindern und TeenSTAR-Kursleiterin erzählte von den Erfolgen ihrer alternativen Sexualerziehung: »Jugendliche, die vor diesem Programm schon sexuell aktiv gewesen sind, hören auf damit.»
Außerdem baute der BVL zunehmend die eigene Positionierung zu bioethischen Fragen unserer Zeit aus, was sich in den Reden als auch in der Optik des Marsches widerspiegelte: Mindestens zwei Drittel der aufwendigen und den Marsch dominierenden Schilder vom BVL behandeln inzwischen nicht mehr nur explizit Abtreibung, sondern beziehen sich auf Sterbehilfe oder die Selektion von als »behindert« diagnostizierten Föten durch PID und PND.
Zuspitzung sei Christenverfolgung
Im Vorfeld hatten mehrere Zeitungen über die »Lebensschutz«-Bewegung und den Marsch berichtet, viele durchaus kritisch. Martin Lohmann (BVL) beklagte in seiner Auftaktrede »Verunglimpfung«, den »Mangel an Argumenten« auf der Gegenseite und sogar »geistige Brandstiftung«. Unter Bezugnahme auf die zentrale Kundgebung gegen Antisemitismus am 14.9. appellierte Lohmann an die Bundeskanzlerin: »Liebe Frau Merkel, passen sie bitte auch auf, was mit den Christen in Deutschland passiert«.
„Wer schützt die Lebensschützer? – Linksradikale attackieren den ›Marsch für das Leben‹« titelte das evangelikale Wochenmagazin ideaSpektrum am 24. September 2014. Von Storch wird darin in Bezug auf die Beteiligung der Partei Die Linke und sozialdemokratischer Verbände an den Gegenprotesten zitiert: »Es ist erstaunlich, dass es in Kenntnis der Gewaltbereitschaft demokratische Parteien gibt, die das [die Gegenproteste, apabiz] unterstützen.« Einer Zuspitzung – mit der zunehmenden Präsenz der selbsternannten »Lebensschützer« auf der einen, und dem wachsenden Widerstand aus feministischen und linken, demokratischen Spektren auf der anderen Seite – wird somit auch durch die christlichen FundamentalistInnen das Wort geredet. Einer argumentativen inhaltlichen Konfrontation, die ja durchaus auch in der Vorfeld-Berichterstattung stattfand, versuchen die »Lebensschützer« mit ihrer pauschalen Selbstdarstellung als Opfer von »Hass und Gewalt« auszuweichen.