Staatlich infiltriertes Milieu
Mit »Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU« liegt seit Mai diesen Jahres erstmals ein umfassendes Werk über den Rechtsterrorismus des Nationalsozialistischen Untergrunds vor. Darin sezieren die beiden Autoren Stefan Aust und Dirk Laabs das extrem rechte Milieu und die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik im Bereich der operativen Bekämpfung der Szene.
Rund 900 Seiten umfasst die Veröffentlichung, aufgeteilt auf zwölf Kapitel, basierend auf einer akribischen Auswertung von Protokollen und Mitschriften aus den Untersuchungsausschüssen des Bundes- und Thüringer Landtags, nicht-öffentlichen Behördenakten und zahlreichen Interviews.
Ausgehend von den Nachwendejahren beschreiben die Autoren chronologisch das Milieu, in dem der NSU-Terror entstehen konnte. Eingebettet in Hintergründe über UnterstützerInnen, deren Strukturen und andere Akteure der extremen Rechten. Innerhalb der Kapitel finden häufig Perspektiv- und Ortswechsel statt, die den komplexen Inhalt auflockern und die Sichtweise der Behörden auf Entwicklungen, Aktionen und Kader nachzeichnen.
Deutlich und direkt wird Kritik an Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern formuliert: Der Inlandsgeheimdienst sei alles andere als auf dem »rechten Auge blind« gewesen. Vielmehr widmete er sich intensiv der Infiltrierung und Steuerung der Szene durch eine Vielzahl an Vertrauensleuten, bezahlte Spitzel, die die Behörde oft nicht unter Kontrolle hatte und all zu oft vor der Strafverfolgung schützte. Viele Neonazis mit Staatsauftrag gehörten zu Strippenziehern in der Szene, viele von ihnen waren im Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds aktiv. Belege für diese Vorwürfe finden sich im gesamten Band und beziehen sich auf unterschiedliche Quellen und Materialien.
Trotz der monatelangen Flut an Enthüllungen ist es den Autoren gelungen, bisher unbekanntes zu veröffentlichen. So entdeckten sie in Abhörprotokollen, gefertigt aus der Kommunikation zwischen Chemnitzer Neonazis, erstaunliche Informationen. Bei der Fahndung nach den Untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten die Ermittler wichtige Kurznachrichten womöglich nicht ordentlich ausgewertet. Kaum verklausuliert sprachen die Unterstützer 1998 über Umzüge und die Opferbereitschaft für Kameraden, nur wenige Monate nach dem Abtauchen und in der Hochzeit der Fahndung.
Aust und Laabs zeichnen in Exkursen auch die Entwicklung des Rechtsterrorismus der siebziger und achtziger Jahre nach, berücksichtigen und verweisen auf internationale Gruppen und Personen, die nach einem ähnlichen Muster wie der NSU agierten und beleuchten Konzepte der militanten Neonazi-Szene, die als Blaupausen für den Untergrundkampf gedient haben könnten.
Ein Großteil der Namen von Neonazis und Verfassungsschützern ist nicht abgekürzt, was dem Verständnis zuträglich ist und den Leser_innen eigene Recherchemöglichkeiten eröffnet. Wer sich einen schnellen Zugriff auf Namen oder Gruppen erhofft, wird jedoch enttäuscht. Ein Personen- und Sachregister fehlt. Den Wert des Buches schmälert das nicht. In der Gesamtheit bietet es eine Fülle an Informationen, die es aktuell zum einzigen Standardwerk machen.
Wie wenig die Gesellschaft trotz der andauernden Aufklärungsarbeit weiß, wird nach der Lektüre abermals deutlich. Noch immer sind zu viele Fragen offen. Nicht umsonst heißt es am Ende: »Dieses Buch soll ein Anfang sein und nicht das letzte Wort.«
Maik Baumgärtner
Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU, Pantheon Verlag (2014), 864 Seiten