Krieg als Lebenselixier
Neuerscheinung zur Rezeption des I. Weltkrieges in der NS-Zeit
Gerd Krumeich (Hg.): Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2014.
Von Kurt Tucholsky stammt die Bemerkung, die nationale Rechte der Weimarer Republik führe immer noch und wieder Krieg, auch und gerade dann, wenn sie vom Frieden spreche. Dieser treffende Satz gilt ebenso für den Nationalsozialismus. In diesem Sammelband gehen die Autor_innen der facettenreichen Wirkungsgeschichte des I. Weltkrieges in der NS-Bewegung und Herrschaftszeit nach. In der Einleitung erinnert der Herausgeber daran, dass und in welchem Maße die Gesellschaft der Weimarer Republik von den Umwälzungen des I.Weltkrieges militarisiert wurde. Sie blieb es auch in der kurzen Phase relativer Stabilität der Republik nach 1923. Millionen Männer wurden durch politische Wehrverbände organisiert und sozialisiert. Militärische Gewalt sah insbesondere die antidemokratische Rechte als legitimes Mittel politischer Konfliktlösung an.
Der I. Weltkrieg diente dem gesamten Spektrum der Rechten als Referenzrahmen für ein Narrativ, in dem Begriffe wie Gemeinschaft, Front und Heldentum eine diskursive Reichweite aufwiesen, die über das Milieu der Frontsoldaten weit hinaus reichten. An diese heroische Erinnerungskultur konnte die NS-Bewegung nahtlos anknüpfen und so motivische Assoziationen aufrufen, die den I. Weltkrieg als tragischen, aber heroischen Opfergang einer im Felde unbesiegten Generation erscheinen ließ, in deren Auftrag die Nazis den Wiederaufstieg Deutschlands vorantrieben.
Gerhard Hirschfeld analysiert, wie Adolf Hitler sein politisches Programm mit seinen angeblichen Erfahrungen als Frontsoldat authentifizierte. Die NS-Propaganda griff vielfach auf Begriffe, Bilder und Symbole aus der Zeit des I. Weltkrieges und der Nachkriegszeit zurück, weil sie als bekannt vorausgesetzt werden konnten und sich eigneten, nationalistisch aufgeladen, erneut Verwendung zu finden. Das für den NS so zentrale Motiv des »jüdischen Bolschewismus« etwa wurde in der Rhetorik der Propaganda mit der Rede vom Dolchstoß aus der Heimat im Jahr 1918 verknüpft.
Im ersten Abschnitt gehen die Autor_innen des Bandes hier diesen und anderen Elementen einer »mentalen Mobilmachung« in der Nazizeit nach. Im zweiten Abschnitt des Buches wird die Rezeption des I. Weltkrieges in der Hitler-Jugend und der SA untersucht, interessant auch deshalb, weil sich deren Motive des »Frontsoldatentums« beim heutigen Totengedenken der Neonaziszene wiederfinden. Dieser Wiedererkennungeffekt stellt sich bei mit dem Neonazismus befassten Leser_innen auch im Kapitel über den I. Weltkrieg in der Malerei der NS-Zeit ein. Die der Schule des Spätexpressionismus entsprungenen, »zurechtgehackten« Soldatengesichter begegnen einem vielfach im Artwork von Booklets des Rechtsrock wieder.
Im dritten Teil des Buches geht es um die Frage, welche Konsequenzen die Praxis des Nationalsozialismus aus den Erfahrungen des I. Weltkrieges zog. Die wirkungsmächtigste Lektion dürfte gewesen sein, dass die NS-Führung, die Hungerstreiks des Jahres 1917 vor Augen, die von Deutschland okkupierten Länder systematisch ausplünderte, auch um den Rückhalt der Heimatfront sicherzustellen. Breiten Raum nimmt die Erörterung jener prä-faschistischen Methoden der Kriegsführung und Aufstandsbekämpfung ein, derer sich bereits die Reichswehr und die Freikorpsverbände im Krieg bzw. in den Bürgerkriegsjahren zwischen 1918 und 1923 bedienten, und die wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der Kriegsführung der Wehrmacht wurden.
Das Buch liegt wohltuend quer zum historiographischen Mainstream des I. Weltkriegsjubiläums. Anschaulich zeigt der Band, an welche kriegsbereiten Voraussetzungen die ideologische Praxis des Nationalsozialismus anknüpfen konnte und welche Traditionslinien des radikalen völkischen Nationalismus bis in den I. Weltkrieg zurückreichen. Wer an einer Archäologie der ikonographischen, soziologischen und kulturgeschichtlichen Gesteinsschichten der heutigen Rezeption des I. Weltkrieges durch die extreme Rechte interessiert ist, sollte unbedingt zu diesem Buch greifen.
Christian Grünert