Chronologie antisemitischer Vorfälle 2006 erschienen
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Das apabiz dokumentiert mit dieser Liste mehr als 120 Fälle antisemitisch motivierter Gewalt- und Straftaten aus dem Jahr 2006. Sie umfasst Fälle antisemitisch motivierter Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Beleidigungen, öffentlichen Schmähungen, Volksverhetzungen und anderer strafrechtlich relevanter Taten. Die Chronologie belegt alleine 16 Fälle von Friedhofsschändungen sowie 49 andere Fälle von Schändungen oder Sachbeschädigungen.
Nach allem, was die Sicherheitsbehörden über dieses Feld veröffentlichen, ist dies nur ein sehr kleiner Teil aller Straftaten.[1] Die MitarbeiterInnen des apabiz stellen diese Liste jährlich aus verschiedenen, öffentlich zugänglichen Quellen wie Presseartikeln, Pressemitteilungen, Polizeitickern u.a. zusammen. Wir greifen dabei auf die Arbeit unserer PartnerInnen in verschiedenen Bundesländern zurück, bei denen wir uns ausdrücklich bedanken.
Eine Zusammenstellung wie diese kann nicht die strengen formalen Kriterien einer Statistik erfüllen. Die breite Streuung der Medienbeobachtung bietet allerdings einen Einblick in die räumliche und inhaltliche Verteilung solcher Taten.
Wir haben uns ausgehend von dem vorliegenden Material dazu entschlossen, die Fälle in folgende Kategorien einzuteilen:
Kategorie Anzahl
a) Schändungen von jüdischen Friedhöfen 16
b) Schändungen bzw. Beschädigungen von Mahnmalen,
Gedenkstätten und jüdischen Einrichtungen 49
Davon Brandanschläge 2
c) Angriffe gegen Personen Gesamt 17
davon Körperverletzungen 10
davon Beleidigungen 7
d) Sonstige Drohungen, Schmierereien und Volksverhetzungen 43
Die Kategorien sind nicht immer ausreichend trennscharf, um die Realität des Antisemitismus in Deutschland darin einzuordnen. Die Sachbeschädigungen unter Punkt b. gehen beispielsweise fast immer mit volksverhetzenden Parolen einher. Oftmals jedoch hinterlassen die Täter keinerlei Hinweise auf ihre Motive, so dass die Polizei nicht von einem rechtsextremen Hintergrund ausgeht.
Wir schlagen daher auch vor, diese Chronologie entsprechend aufmerksam zu lesen. Manche Fälle, vor allem im großstädtischen Raum, sind zwar eindeutige Sachbeschädigungen, aber ein Motiv bleibt im Dunkeln. Wir haben in solchen Fällen auf eine Zählung verzichtet, den Fall aber in der Chronologie belassen (Vgl. 06. Juni 2006).
Ähnlich schwierig sind Fälle der verbalen Bedrohung, vor allem zwischen Jugendlichen. Opfer und Täter kennen sich häufig und die antisemitischen Parolen stellen manchmal nur einen Aspekt der unbestreitbaren Attacken dar. Und das Schimpfwort „Du Jude“ gehört auch bei vielen nicht-rechten Jugendlichen schon zum Standard. In den Fällen, die starke Zweifel offen ließen, verzichteten wir auf eine Zählung.
Im folgenden beleuchten wir ein paar Aspekte genauer:
Ein kurzer Blick auf einige Fälle
In 16 Fällen wurden Schändungen von jüdischen Friedhöfen berichtet. Wie hoch die Dunkelziffer in diesem Bereich sein dürfte, zeigt die Aussage des Direktors des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden Hessens, Daniel Neumann. Anlässlich der Schändung eines Friedhofes in Hasselbach äußerte dieser, dass von landesweit etwa 310 jüdischen Friedhöfen jährlich etwa zehn geschändet würden (Vgl. 22. Mai 2006). Wenn man wie wir diese Arbeit über mehrere Jahre macht, fallen einem manche Orte schnell ins Auge. Alsbach-Hähnlein kennen wir leider ausschließlich von den immer wieder kehrenden Friedhofsschändungen. Obernkirchen in Niedersachsen kommt allein in diesem Jahr auf zwei dieser Vorfälle.
Räumliche und zeitliche Ballungen von Sachbeschädigungen kommen öfter vor. Die Zeit um den 20. April sowie der frühe November sind Phasen häufiger Übergriffe. Zum Teil sind diese auch deutlich anlassbezogen: es kommt immer wieder zu Störungen von Veranstaltungen zur Pogromnacht des 9. Novembers oder der Vandalisierung der abgelegten Kränze und Blumen. Prototypisch war im vergangenen Jahr der Fall in Frankfurt / Oder. Besonders herauszuheben sind die zwei Brandanschläge vom 25. Oktober 2006 in Berlin-Treptow und vom 06. November 2006 in Osterholz-Scharmbeck, da hier die Grenze zum gezielten, terroristischen Vorgehen zumindest sichtbar wird.
Die Fälle, die 2006 am meisten Aufsehen erregten, waren sicherlich die Bücherverbrennung in Pretzien und die widerwärtige Demütigung eines Schülers in Parey, beides Sachsen-Anhalt.
Andere Menschen wurden aufgrund ihrer politischen Arbeit als Juden oder Judenfreunde beschimpft. Überregional weitgehend unbeachtete Fälle wie in Taufkirchen (vgl. 21./22. Januar 2006) und in Erbach-Bullau (vgl. 22. November 2006) gehören dazu. Zu beachten ist hier, dass die Täter offenbar davon ausgehen, einen politischen Rufmord mit der Schmähung als „Jude“ erreichen zu können. Die Täter sind ganz in der Vorstellung eines völkischen Antisemitismus verhaftet. Nach ihrer Vorstellung würden die so titulierten Menschen schon damit außerhalb einer als homogen phantasierten „Gemeinschaft“ stehen und – wie in einem Fall auch formuliert – als „Handlanger“ volksfeindlicher Kräfte gebrandmarkt werden können. In einem Fall tritt der Angegriffene von seinem Amt zurück. Leider geben uns die Presseartikel keine Hinweise auf weitere Reaktionen der kommunalen Politik.
In Berlin sind die Mahnmale in Mitte und in der Levetzowstraße sowie an der Putlitzbrücke ständiges Ziel von Schmierereien. Auch 2006 wurden diese zum Teil mehrmals geschändet. Das gleiche wiederfuhr 2006 der Gedenktafel in Alt-Rudow, die an den während der Nazi-Zeit ermordeten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Heinrich Stahl, erinnert. Hier schmierten die Antisemiten drei Mal herum.
Nach wie vor ungeklärt ist die beispiellose Serie antisemitischer Schmierereien in Berlin, die 2005 begann und erst 2006 ein Ende fand. Zumindest wird noch ein Fall am 19. Februar 2006 in die Serie von mindestens 126 Fällen eingereiht. Und auch eine Schmiererei in Berlin-Reinickendorf am 29. Januar 2006 passt in das Tatschema: Immer wurden Davidsterne gesprüht, offenbar meist in gelber oder orangefarbener Farbe. Hinweise auf die Täter scheint es in keinem einzigen der Fälle gegeben zu haben.
Einzelne Fälle werden wir in 2007 weiter begleiten, da hier juristische Folgen der Taten anstehen. Sollten Ihnen Fälle bekannt sein, die hier nicht erwähnt werden, bitten wir um einen Hinweis.
Ulli Jentsch / apabiz Im Februar 2007
Anmerkung:
[1] Aus den Anfragen des Büros von Petra Pau (PDS, MdB) ergeben sich 1024 durch die Polizeibehörden erfasste Straftaten im Jahr 2006. http://www.petrapau.de/16_bundestag/dok/down/2006_zf_antisemitische_straftaten.pdf